Óscar Murillo, ­Menschenrechtler, im Gespräch über die Niederschlagung der Proteste in Venezuela

»Die Colectivos verschleppen Menschen«

Eine Woche lang gingen Tausende Menschen in Venezuela auf die Straße, um gegen den wahrscheinlichen Wahlbetrug des amtierenden Präsidenten Nicolás Maduro zu protestieren. Die »Jungle World« sprach mit Óscar Murillo, dem Direktor der venezolanischen Menschenrechtsorganisation Provea. Die NGO weiß von 24 Menschen, die im Zuge der der brutalen Niederschlagung der Proteste seit dem 28. Juli starben, paramilitärische Gruppierungen sind darin verwickelt.

Wie ist die Situation zehn Tage nach den Wahlen in Venezuela – halten die Proteste gegen den mutmaßlichen Wahlbetrug der Regierung von Nicolás Maduro an?
Nein, die Bevölkerung ist weitgehend auf dem Weg zurück in ihre Normalität. Wir haben seit 2017 nicht mehr dieses Niveau an Repression erlebt. Zusammen mit den Familienangehörigen der Betroffenen dokumentiert Provea ungerechtfertigte Festnahmen. Das Gleiche gilt für gewaltsame Übergriffe, das Verschwinden und den Tod von Protestierenden bei und nach den Protesten. Die Situation ist angespannt, die Menschen trauen sich nachts kaum noch raus – es ist wie bei einer Sperrstunde.

»Bei acht der 24 Toten sind wir auf die Colectivos als mutmaßliche Täter gestoßen.«

Wir prangern die vorsätzliche Verletzung von Grund- und Verfassungsrechten durch die venezolanische Regierung an. Hier werden sämtliche internationale Menschenrechtsnormen verletzt.

Wie viele Menschen starben bei den Protesten in den ersten Tagen nach der Verkündung des offiziellen Wahlergebnisses?
Unseren Kenntnissen zufolge starben 24 Menschen bei den Protesten zwischen dem 28. Juli und dem 5. August – in einer Woche. Das passierte in aller Regel bei Angriffen auf die Protestdemonstrationen. Maduro nannte außerdem eine Zahl von über 2.200 Festnahmen. Diese erfolgten meist ohne richterliche Weisung. Der Aufenthaltsort vieler Festgenommener ist unbekannt. Um herauszufinden, wo sich ihre Angehörigen aufhalten, haben mehrere Hundert Familien Anzeigen wegen gewaltsamen Verschwindenlassens eingereicht. Es verstößt gegen den Artikel 49 der venezolanischen Verfassung, Personen zu verhaften, ohne ihre Angehörigen zu verständigen und ohne ihnen die Chance zu geben, juristischen Beistand zu rufen. Bei acht der 24 Toten sind wir auf die colectivos als mutmaßliche Täter gestoßen. Dabei handelt es sich um bewaffnete gewalttätige paramilitärische Einheiten der sogenannten Bolivarischen Revolution. Sie agieren ungestört von der Polizei, greifen Zivilisten an und verletzen sie teils tödlich.

War das Auftauchen der colectivos eine Überraschung?
Ja und nein, denn in den letzten Jahren waren diese paramilitärischen Verbände nicht so präsent wie 2017 und davor. Das Militär ist selbst nicht auf der Straße im Einsatz. Aber wir denken, dass die colectivos mit der Armee in Verbindung stehen, dass sie im Sinne der Armeeführung agieren. Das ist eine Mutmaßung, für die es lediglich Indizien, keine Beweise gibt. Es ist offensichtlich, dass die colectivos die Bevölkerung einschüchtern und Angst davor verbreiten sollen, auf die Straße zu gehen. Sie sind Teil einer Strategie, die Opposition mundtot zu machen und sie zu terrorisieren.

Wie muss man sich das vorstellen?
Die colectivos dringen gezielt in Stadtteile ein, suchen sich ein Gebäude heraus, ein oder zwei Wohnungen, verschleppen deren Bewohner oder auch nur eine Person. Zwar waren die colectivos vor zehn Jahren noch deutlich präsenter und auch größer als heute, aber die Grundidee hat sich nicht geändert.

»Es ist wirklich erschreckend. Hier wird systematisch unterdrückt, selektiv verhaftet, um die Opposition zum Schweigen zu bringen, weil sie den Wahlbetrug anprangert.«

Wie verhalten sich die Sicherheitskräfte, jetzt wo die Situation auf den Straßen befriedet ist?
Sie verschaffen sich zum Beispiel gewaltsam Zugang zu Privathäusern, ohne richterliche Genehmigung. Das ist Hausfriedensbruch, zudem wird den Menschen nicht das Recht zugebilligt, einen Anwalt hinzuzuziehen, und bei Verhaftungen ist es weiter so, dass die Menschen nicht ihre Familien verständigen können. Das ist ein Grund, weshalb die Zahl der Verschwundenen recht hoch ist. Hinzu kommt, dass jede Versammlung ein potentielles Ziel für Angriffe von Polizei und colectivos ist – de facto wird das Versammlungsrecht also unterdrückt. Gleiches gilt für das Recht auf freie Meinungsäußerung.

Nicolás Maduro drohte: »Ich habe Gefängnisse vorbereitet, wir haben mehr als 2.000 festgenommen.« Lässt ihn der Druck aus dem Ausland unbeeindruckt?
Es ist wirklich erschreckend. Hier wird systematisch unterdrückt, selektiv verhaftet, um die Opposition zum Schweigen zu bringen, weil sie den Wahlbetrug anprangert. Das ist ihr gutes Recht. Die offiziellen Ergebnisse sind nicht vereinbar mit den Ergebnissen aus rund 73 Prozent der Wahllokale, die an die Öffentlichkeit gelangt sind. Da gibt es einen immensen Widerspruch, um es vorsichtig auszudrücken.

Die Opposition hat das Militär aufgefordert, seine Position zu überdenken. Sehen Sie Kräfte innerhalb der Armee, für die ein Seitenwechsel in Frage käme?
Die Armeeführung hat der Regierung von Maduro politische Unterstützung zugesichert, aber nicht mehr. Die Soldaten sind in den Kasernen, sie treten derzeit nicht in der Öffentlichkeit in Erscheinung. Die Streitkräfte nehmen nicht an der Repression teil, sind aber für die Krise mitverantwortlich, weil sie einen Wahlbetrug mittragen und das Land so in eine neuerliche Krise stürzen.

Wurde Maduro von dem Wahlergebnis und seiner Deutlichkeit womöglich überrascht?
Es ist möglich, dass seine Berater ihm falsche Hoffnungen auf einen Wahlsieg gemacht haben. Um ehrlich zu sein, hätte ich auch nicht mit einem derart deutlichen Ausgang der Wahl gerechnet, wie es die Dokumente der Opposition nahelegen, eher mit einem knappen Sieg für die Opposition.

Was hat Sie zu dieser Einschätzung gebracht?
Maduro hat Wahlkampf gemacht, die Regierungsmaschine lief auf Hochtouren und er war deutlich präsenter als die Opposition. Ihr wurde der Wahlkampf erschwert, weswegen sie nicht so wahrnehmbar war und immer wieder improvisieren musste. Insofern war die Wahl von vornherein unfair, aber die Umfragen waren deutlich – und die Opposition hatte eine Strategie für den Wahltag. Im gesamten Land verteilt haben Wahlleiter:innen nach der Auszählung der Stimmen und der Unterschrift der Wahlleiter:innen Fotos der Auszählungen gemacht und alles online gestellt. So liegen 73 Prozent der Abstimmungsergebnisse vor. Damit hat die offizielle Seite nicht gerechnet, das hat sie überrascht und nun kann sie ihren hinausposaunten Sieg nicht dokumentieren, wie es viele Länder fordern.

Was ist Ihre Bilanz nach elf Jahren unter der Regierung von Maduro?
Provea hat im April seinen Jahresbericht veröffentlicht, der genau dieser Frage nachgeht. Venezuela hat unter Maduros Ägide eine dunkle Dekade durchlitten. So lautet auch der Titel dieser Studie, die beschreibt, wie das Land in eine humanitäre Katastrophe abgerutscht ist, in der nicht nur die sozialen Rechte der Bevölkerung eklatant verletzt wurden und rund sieben Millionen Menschen das Land verließen, sondern auch die politischen Rechte. Essentiell ist aus unserer Perspektive die Kooptierung der Justiz, der Verlust des Gleichheitsprinzips beim Zugang zu den Institutionen, der maßgeblich zur omnipräsenten Straflosigkeit beiträgt. Diese Situation hofften große Teile der Bevölkerung mit den Präsidentschaftswahlen vom 28. Juli, die weder frei noch fair waren, zu ändern. Die anvisierte Rückkehr zur Demokratie ist gescheitert.

»Wir brauchen mehr Aufmerksamkeit, mehr Druck auf jene, die die Macht nicht abgeben wollen und einer Transition im Wege stehen.«

Lässt sich die humanitäre Krise konkret beziffern?
Schätzungsweise die Hälfte aller Haushalte lebt in extremer Armut, kann sich nicht ausreichend mit Lebensmitteln versorgen. Der Mindestlohn in Venezuela liegt bei 130 Bolívar, umgerechnet 3,25 Euro, und deckt nicht die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten einer Person.

Können die Regierungen Brasiliens, Kolumbiens oder Mexikos vielleicht einen Ausweg aus der Krise vermitteln?
Das ist aus unserer Sicht die vielversprechendste Option. Die genannten Länder haben alle vergleichbare Erfahrungen gemacht. Daraus kann man in dieser Situation vielleicht lernen. Wir brauchen definitiv die Akzeptanz für das Votum der Bevölkerung und die Rückkehr zu demokratischen Spielregeln. Die Krise des politischen Systems in Venezuela ist als Teil einer globalen Krise des demokratischen Modells zu sehen. Die Bevölkerung Venezuelas benötigt dringend internationale Unterstützung.

Was erwarten Sie von der sogenanten internationalen Gemeinschaft? Sanktionen, diplomatische Offensiven oder das Einfrieren von Konten?
Wir brauchen mehr Aufmerksamkeit, mehr Druck auf jene, die die Macht nicht abgeben wollen und einer Transition im Wege stehen. Die offizielle Amtsübergabe ist erst am 10. Januar 2025, bis dahin ist durchaus Zeit zu vermitteln, um die autoritären Kreise zum Einlenken und Maduro zum Rücktritt zu bewegen. Dazu braucht es eindeutige, klare Haltungen und ein Insistieren auf die Offenlegung der Wahlergebnisse. Die Zeit läuft.

Óscar Murillo

Óscar Murillo ist Direktor der Menschenrechtsorganisation Programa Venezolano de Educación Acción en Derechos Humanos (Provea) aus Venezuela. Er ist Journalist und hat an der katholischen Universität Andrés Bello Kommunikationswissenschaften unterrichtet. Seit 2009 engagiert er sich bei Provea. 

Bild:
privat