Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat den Konservativen Michel Barnier zum Premierminister ernannt

Unter Druck von rechts

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat den Konservativen Michel Barnier zum Premierminister ernannt. Dessen Regierung wird wohl auf eine Tolerierung durch die extreme Rechte angewiesen sein.

Ist es ein großer Karriereschritt oder begibt man sich auf einen Schleudersitz? Diese Frage stellt sich derzeit Anwärterinnen und Anwärtern auf ein Ministeramt in Frankreich. Nachdem Präsident Emmanuel Macron am Donnerstag voriger Woche nach 50tägiger Wartezeit Michel Barnier zum Premierminister ernannt hat, stellt dieser nun ein Kabinett zusammen. Dabei hat der 73jährige allerdings offenbar keine freie Hand, Macron behält durchgestochenen Informationen zufolge zumindest bei der Besetzung von Schlüsselministerien das letzte Wort.

Nach Artikel 21 und 22 der französischen Verfassung bestimmt der Premierminister die Richtlinien der Politik und »kann einen Teil seiner Vollmachten an Minister delegieren«. Demnach müsste er das Recht haben, seine Kabinettsmitglieder auszuwählen. Die Praxis aber sieht wohl anders aus.

Michel Barnier gehörte während seiner gesamten politischen Karriere konservativen Parteien an und vertrat oft auch reaktionäre gesellschaftspolitische Positionen.

Bereits der Begründer der Fünften Republik im Jahr 1958, Charles de Gaulle, hatte eine politische Zentralisierung mit großen Vollmachten für den Präsidenten vor Augen. 1965 wurde dieser erstmals direkt gewählt. Doch behielt die Regierung, die sich, anders als das niemandem rechenschaftspflichtige Staatsoberhaupt, vor dem Parlament verantworten muss, dabei zunächst noch ein gewisses Maß an Autonomie. Präsident Nicolas Sarkozy (2007 bis 2012), der seinen fünf Jahre lang amtierenden Premierminister François Fillon als seinen »Mitarbeiter« bezeichnete, beanspruchte mehr Befugnisse. Emmanuel Macron jedoch übertrifft Sarkozy darin noch bei weitem.

Der Öffentlichkeit wurde dies dadurch verdeutlicht, dass das Präsidialamt im Élysée-Palast vergangene Woche bekanntgab, in den vergangenen Jahren hätten die Berater des Staatspräsidenten zugleich als Ministerialberater fungiert. Dann folgte am vergangenen Donnerstag zusammen mit der Bekanntgabe des neuen Premierministers die Ankündigung, diese Praxis solle nun enden. Die Ministerien sollen demnach wieder mehr Autonomie erhalten und nicht von Präsidialamtsmitgliedern beeinflusst werden.

Einfluss Ma­crons auf die Wirtschaftspolitik der Regierung dürfte bleiben

Allerdings wurde tags darauf publik, dass Jérôme Fournel zum neuen directeur de cabinet (Stabschef) von Premierminister Barnier ernannt worden war. Fournel beriet bereits den bisherigen Wirtschaftsminister Bruno Le Maire – dieser drängte am Montag bei einer Ansprache vor Parlamentariern die künftige Regierung zu einem harten Sparkurs – sowie den bisherigen Innenminister Gérald Darmanin, also zwei bedeutende Regierungsmitglieder, die beide 2017 aus der konservativen Rechten – sie hatten in der gaullistischen UMP Karriere gemacht – ins Kabinett kamen. Der 57jährige Fournel steht ferner persönlich Macrons Chefberater Alexis Kohler nahe. Der Einfluss Ma­crons vor allem auf die Wirtschaftspolitik der Regierung dürfte also gewährleistet bleiben.

Die neue Regierung soll innerhalb von zehn bis 14 Tagen gebildet werden, es ist jedoch ungewiss, wie lange sie bestand haben wird. Denn in der Nationalversammlung verfügt derzeit keine Partei oder Allianz über eine Mehrheit. Die Mandate verteilen sich auf drei ungefähr gleich starke politische Blöcke: das heterogene linke Bündnis Neue Volksfront (NFP); den wirtschaftsliberalen »zentralen Block«, wie die Anhänger Macrons sich seit kurzem bezeichnen, an die nun auch ein Teil der bürgerlichen Rechten (Les Républicains, LR) angegliedert ist; und die neofaschistischen Rechten des Rassemblement national (RN), mit denen der andere Teil der Konservativen kooperiert.

Gemäß Artikel 12 der Verfassung kann der Präsident einmal pro Jahr die Nationalversammlung auflösen. Die Entscheidung obliegt allein ihm, Rechtsmittel dagegen gibt es nicht. Viele Kommentatorinnen und Kommentatoren gehen derzeit davon aus, zwischen Frühsommer und Frühherbst 2025, rund ein Jahr nach dem Auflösungsbeschluss vom 9. Juni dieses Jahres, könnte es erneut vorgezogene Wahlen geben.

Ob es wirklich dazu kommt, bleibt freilich abzuwarten, denn mit der Ernennung von Barnier und der bevorstehenden Kabinettsbildung versuchen mehrere politische Lager, eine neue Regierungsmehrheit zu bilden.

Barnier wird als erfahrener Staatsmann präsentiert

Barnier, der unter anderem für die EU die »Brexit«-Verhandlungen führte, wird als erfahrener Staatsmann präsentiert. Er gehörte während seiner gesamten politischen Karriere, die er 1973 als Abgeordneter begann, konservativen Parteien an und ist heutzutage Mitglied von LR. In der Vergangenheit vertrat er oft auch reaktionäre gesellschaftspolitische Positionen. 1981 stimmte er mit einem Teil der Konservativen gegen die Aufhebung der letzten diskriminierenden Strafrechtsbestimmungen gegen Homosexuelle, 1999 gegen die »eingetragene Lebensgemeinschaft« (Pacs), die Homosexuellen eine zivilrechtliche Partnerschaft ermöglichte. Seine Ernennung deutet darauf hin, dass Ma­cron eine Tolerierung der Regierung durch die extreme Rechte anstrebt.

Deren wichtigste Partei, der RN, will das nutzen. Dessen Fraktionsführerin Marine Le Pen und dessen Parteivorsitzender Jordan Bardella traten vor der Ernennung Barniers mit Personalforderungen hervor; vor allem lehnten sie mögliche Kandidaten ab, wie den parteilosen bürgerlichen Regionalpräsidenten in Nordfrankreich, Xavier Ber­trand, weil dieser sich in der Vergangenheit despektierlich über den RN geäußert hatte.

Die extreme Rechte kann die ihr von Macron mutmaßlich zugedachte Rolle nur spielen, weil der Präsident das heterogene linke Wahlbündnis NFP bei der Regierungsbildung überging. Der NFP war im zweiten Durchgang der Neuwahlen am 7. Juli überraschend zur stärksten Kraft geworden. Fast alle Umfragen hatten einen Wahlsieg der ex­tremen Rechten prognostiziert, was jedoch unvorhergesehen starke Abwehrreaktionen auslöste. Wenn auch mühsam, hatten sich die Parteien der linken Allianz dann am 23. Juli auf Lucie Castets als gemeinsame Kandidatin für den Posten des Premierministers verständigen können. Macron wies diese Option jedoch kategorisch von sich.

Macron hält an Rentenreform fest

Zeitweilig zog er allerdings die Einsetzung des rechten Sozialdemokraten Bernard Cazeneuve in Erwägung, der unter dem sozialdemokratischen Präsidenten François Hollande zunächst ab 2014 Innen- und später fünf Monate lang Premierminister war. Dies hätte den Parti socialiste (PS) aus dem Bündnis NFP herauslösen sollen. Allerdings gehört Cazeneuve dem nach der Regierungsperiode Hollandes sehr geschwächten PS nicht mehr an, er spaltete sich von diesem vielmehr 2022 mit der Kleinstpartei La Convention ab, weil er die Bündnispolitik des PS in der damaligen linken Wahlallianz Nupes nicht mittragen mochte.

Im PS ist man vor allem am Überleben als Partei interessiert. Dieses hätte ein Bruch des Bündnisses, vor allem jedoch eine abermalige Enttäuschung inhaltlicher Erwartungen der Wählerschaft ernsthaft gefährdet. Daher wollte man Macron mehrheitlich nicht zusagen, einem Premierminister Cazeneuve das Vertrauen auszusprechen. Eine innerparteiliche Abstimmung des erweiterten Parteivorstands ging mit 38 zu 33 dagegen aus.

Cazeneuves Ernennung scheiterte ferner daran, dass Macron eisern an der im vorigen Jahr verabschiedeten Rentenreform und insbesondere der Anhebung des gesetzlichen Mindestalters für den Renteneintritt um zwei Jahre festhält. Cazeneuve forderte aber ein »Aussetzen« der Reform um gut zwei Jahre bis zur nächsten Präsidentschaftswahl. Barnier und seine Partei LR hingegen wollten im Vorjahr das gesetzliche Mindestrentenalter noch stärker als Macron anheben – auf 65 statt 64 Jahre.

Am Samstag demonstrierten landesweit rund 200.000 Menschen, davon gut 50.000 in Paris gegen Macrons Handstreich. 

Als wichtige symbolische Maßnahme erwägt Barnier die Einrichtung eines Einwanderungsministeriums; Barnier profiliert sich in seiner Partei schon länger mit einem harten Kurs in der Mi­grationspolitik. Dies stellt eine Reminiszenz an die Zeit unter Präsident Sarkozy dar, als von 2007 bis 2010 ein eigenes »Ministerium für Immigration und nationale Identität« existierte – Sarkozy schwächte damals kurzzeitig die extreme Rechte bei Wahlen, dauerhaft war der Effekt seines Manöver jedoch nicht.

Der RN dürfte eine solches Ministerium gutheißen. Am Wochenende kündigte Bardella jedoch an, den künftigen Premierminister »unter demokratische Überwachung« seiner Partei zu stellen – was die Drohung mit einem jederzeit möglichen Misstrauensvotum beinhaltet.

Die Linke hingegen trug ihren Protest auf die Straße. Am Samstag demonstrierten landesweit rund 200.000 Menschen, davon gut 50.000 in Paris gegen Macrons coup de force (Handstreich). Die Gewerkschaften wollen am 1. Oktober gegen die Beibehaltung der Rentenreform streiken.