Ungarn entzieht Tausenden ukrainischen Flüchtlingen die Unterstützung

In die Obdach­losigkeit gejagt

In Ungarn ist ein neues Gesetz in Kraft getreten, das Tausenden ukrainischen Flüchtlingen die Unterstützung entzieht.

Es sind erbarmungswürdige Szenen, die Mitarbeiter des liberalen ungarischen Nachrichtenmagazins Heti Világgazdaság (HVG) im nordungarischen Dorf Kocs filmen. Männer, Frauen und viele Kinder stehen mit ihren Habseligkeiten auf der Straße. Einige Kinder spielen, einige haben sich auf Koffer oder Plüschtiere gelegt. Es sind Flüchtlinge aus der Ukraine, die die vergangenen zwei Jahre in einer Pension untergebracht waren und nun auf die Straße gesetzt wurden.

Die Region gehörte bis zum Ersten Weltkrieg zu Ungarn, so dass es bis heute eine ungarische Minderheit dort gibt, zu der auch Roma gehören. Sie sind mehrheitlich ungarisch-ukrainische Doppelstaatler.

Grundlage hierfür ist eine Regierungsverordnung aus dem Juni. Diese gewährt ab dem 21. August nur noch solchen Flüchtlingen aus der Ukraine Unterstützung, die aus unmittelbar vom Krieg betroffenen Landkreisen stammen – nach Schätzung der ungarischen Regierung gilt das nur für die Hälfte der ukrainischen Flüchtlinge, die sich im Land aufhalten. Welche Landkreise in den Augen der ungarischen Regierung vom Krieg betroffen sind, soll monatlich aktualisiert werden.

Viele der betroffenen Flüchtlinge sind ungarischsprachige Roma aus dem westukrainischen Transkarpatien. Die Region gehörte bis zum Ersten Weltkrieg zu Ungarn, so dass es bis heute eine ungarische Minderheit dort gibt, zu der auch Roma gehören. Sie sind mehrheitlich ungarisch-ukrainische Doppelstaatler.

Normalerweise betont die nationalkonservative Fidesz immer lautstark, wie sehr sich ihre Regierung um die ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern kümmere. In diesem Fall scheint dies aber keine große Rolle zu spielen.

Plötzliche Obdachlosigkeit

Béla Lakatos, der für die liberale Partei Momentum fürs ungarische Parlament kandidierte, sieht den Grund darin, dass es sich hier um Roma handelt. Wären die Opfer keine Roma, hätte die Regierung diese Verordnung nicht erlassen, ist er sich im Video von HVG sicher. Die Stimmung sei in Ungarn mittlerweile extrem unsolidarisch, vor allem gegenüber Roma, wie er beklagt. Hierfür macht er die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán verantwortlich.

Die plötzliche Obdachlosigkeit mache auch zwei Jahre Integrationsleistung zunichte, beklagt der Roma-Aktivist Mario Kiss im linken Online-Medium Mérce. Einige der Jugendlichen hätten erst in den vergangenen zwei Jahren in Ungarn in der Schule lesen und schreiben gelernt und seien über den normalen Unterricht hinaus von Freiwilligen pädagogisch gefördert worden. Sie hätten eine Perspektive für Leben und Beruf gehabt, die nun zerstört würde. Würden sie in ihrer Verzweiflung in die Ukraine zurückkehren, müssten sie zudem die Einberufung zum Kriegsdienst befürchten.

Der Aufenthalt in Ungarn scheint für manche im Vergleich zum Leben in der Ukraine tatsächlich Verbesserungen geboten zu haben, die nun verloren gegangen sind. Eine Frau, die HVG interviewt, schildert die schwierige Lage in der Ukraine. Dort gebe es keine Arbeit, und seit sie geflohen seien, würden Binnenflüchtlinge aus anderen Teilen der Ukraine ihre Häuser plündern. Aber auch in Ungarn hätten sie es nicht leicht. Sie als Analphabetin beispielsweise könne kaum auf einen Job in Ungarn hoffen.

Regierungsvertreter: Jeder könne Arbeit finden

Anderen erging es besser. Viele der Männer arbeiteten in Ungarn, zum Teil würden deren Arbeitgeber in der Not helfen. Ein Angebot des Malteser-Hilfswerks, die auf die Straße Gesetzten für eine Woche in die nordungarische Kleinstadt Dorog in eine Pension zu bringen, haben daher nur 80 Menschen akzeptiert.

Man kann vermuten, dass es diejenigen sind, die kein arbeitendes Familienmitglied haben. Was nach Ablauf der Woche aus ihnen wird, ist ungewiss. Lakatos beklagt, dass einige schon als Obdachlose an Budapester Bahnhöfen gelandet seien und wahrscheinlich noch mehr dieses Schicksal ereilen werde.

Während in Kocs über 150 Menschen aus der Pension geworfen wurden, sind es landesweit mindestens 2.000, die ihre Unterkunft verlieren. So lautet die Schätzung von Gergely Gulyás, der in der ungarischen Regierung einen Posten bekleidet, der dem des eines Kanzleramtsministers entspricht. Kritik an den Maßnahmen relativiert er und behauptet, in Ungarn könne jeder Arbeit finden und sich seine Unterkunft selbst finanzieren.

Die Regierung Orbán ist bemüht, mit vor allem gegen Roma gerichteter neoliberaler Workfare-Politik am rechten Rand zu fischen. 

Zu den Motiven für die Verordnung befragt, sagt er, die Regierung wolle damit umgerechnet 25 Millionen Euro an Kosten einsparen. Im Laufe der Pressekonferenz äußert Gulyás aber auch Kritik an der Migrationspolitik der EU, droht, Migranten auf Kosten des ungarischen Staats nach »Brüssel« zu bringen, und bringt dies in Zusammenhang mit den Strafgeldern, die die ungarische Regierung zahlt, weil sie ihr Flüchtlingsaufnahmekontingent nicht erfüllt.

Neben dem finanziellen Argument kann man die Maßnahme also als politisches Manöver betrachten, das die EU unter Druck setzen soll. Außerdem ist die Regierung Orbán bemüht, mit vor allem gegen Roma gerichteter neoliberaler Workfare-Politik am rechten Rand zu fischen. Schon kurz nach Fidesz’ Machtübernahme 2010 hatte sie für Sozialhilfeempfänger ein kommunales Arbeitspflichtprogramm eingeführt, so dass nur Sozialhilfe erhält, wer für etwa die Hälfte des Mindestlohns im Dienst des Staats oder der Kommunen arbeitet.

Damals versuchte die Partei, Wähler der rechtsextremen Partei Jobbik zu ködern, derzeit geht es um die der 2018 durch Abspaltung von Jobbik gegründeten rechtsextremen Partei Mi Hazánk Mozgalom (Unsere-Heimat-Bewegung). Diese kooperiert zwar immer wieder mit Fidesz, dennoch ist der Regierungspartei daran gelegen, ihre knappe Zweidrittelmehrheit im Parlament bei Abstimmungen noch auszubauen. So dürfte die Entscheidung also, wie bei Fidesz üblich, einer Mischung von innenpolitischen und außenpolitischen Zielen dienen, die wiederum alle die Festigung der »illiberalen Demokratie« stützen.