Auszug aus dem Buch von Andreas Rentz

Antijüdische ökonomische Stereotype: Der »Geldjude«

Die Annahme, Juden und Jüdinnen seien im Mittelalter durch ein nur für das Christentum geltendes Zinsverbot in die Finanzwirtschaft gedrängt worden, ist historisch widerlegt. Die behauptete Affinität von jüdischen Personen und Geld verweist vielmehr auf Muster des ­traditionellen christlichen Antijudaismus, die vor dem Hintergrund ökonomischer Umwälzungen virulent werden.
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Zäh hält sich die Ansicht, die stereotypische Verknüpfung von Juden und Jüdinnen mit Gier, Reichtum und Wucher ginge auf ihre vermeintliche Rolle im vormodernen Geldhandel zurück. Dem aktuellen Forschungsstand zufolge ist diese tra­ditionelle Meistererzählung jedoch nicht länger haltbar. Seinen Ursprung hatte dieses Narrativ bei Ökonomen des 19. Jahrhunderts wie Wilhelm Roscher, Werner Sombart und Max Weber im Kontext der Aus­einandersetzung um die Etablierung des bürgerlichen Kapitalismus und um die jüdische Emanzipation; bereits Roscher und Sombart liefern beste Beispiele, dass diese Meistererzählung philo- wie antisemitisch interpretiert werden konnte.

Nach der Shoah entwickelte sich Antisemitismusforschung als Disziplin vor allem in der Soziologie und der Geschichtswissenschaft. Historiker wie Joshua Trachtenberg und Léon Poliakov fragten in den 1940/50ern nach den historischen Wurzeln des Antisemitismus und entdeckten sie im Mittelalter. Die These der oben genannten Ökonomen wurde nun in die Geschichtsforschung integriert, zu einer Meistererzählung ausgestaltet, mit einer selektiven Quellenauswahl belegt, tradiert und weiter popularisiert. Bereits in den 1970/80ern wurden durch Lester K. Little, Stuart Jenks oder František Graus erste Zweifel an dieser Geschichte laut, die sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte zur Gewissheit verdichteten, dass es sich um einen »Mythos« handelt, wie Julie Mell so provokant wie treffend formuliert hat.

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