In den Sommerferien steigt für einige Schülerinnen das Risiko, zwangsverheiratet zu werden

Saison der Zwangsehe

Am 18. Juli beginnen in Berlin die Sommerferien. Für einige Schüler:in­nen steigt damit das Risiko, gegen ihren Willen verheiratet zu werden. Die Frauenrechtsgruppe Terre des Femmes geht präventiv dagegen vor.

Nicht für jedes Kind in Berlin bedeuten die bevorstehenden Sommerferien Sonne, Spaß und Schwimmbadpommes. Für viele Kinder streng patriarchaler Familien steigt in den sechs Wochen, in denen sie von Lehrer:innen, Sozial­arbeiter:innen und Mit­schüler:in­nen unbeobachtet sind, das Risiko, in ihren Herkunftsländern zwangsverheiratet zu werden. Jährlich zwölf Millionen Mädchen werden nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks Unicef weltweit zur Heirat gezwungen.

»Viele Betroffene suchen gar nicht nach Hilfe; teils aus Angst vor den Konsequenzen, teils aus starker Abhängigkeit zur Familie«, sagt Myria Böhmecke, Referatsleiterin des Ressorts »Gewalt im Namen der Ehre« des Frauenrechtsvereins Terre des Femmes, der Jungle World. Der Verein geht deshalb seit zwei Jahren zusammen mit der Polizei an Schulen, um über die Gefahren ­einer Zwangsverheiratung und die rechtlichen Aspekte aufzuklären. Das präventiv angelegte Projekt »Weiße Woche« wendet sich allerdings nicht nur an potentiell Betroffene. Die Frauenrechtlerinnen wollen damit alle Schüler:innen ansprechen, sie für das Thema sensibilisieren und an deren Zivilcourage appellieren. Die Schulen würden nach Bedarf ausgewählt werden, so Böhmecke. Teilweise träten die Schulleitungen selbst an Terre des Femmes heran.

Jährlich zwölf Millionen Mädchen werden nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks Unicef weltweit zur Heirat gezwungen.

Im November veröffentliche der Berliner Arbeitskreis Zwangsheirat vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg die neuesten Zahlen zu Zwangsverheiratung. Demnach registrierte der Arbeitskreis in der Hauptstadt 496 Fälle einer geplanten, befürchteten oder vollzogenen Zwangsverheiratung im Jahr 2022. Zwar sind das 13 Prozent weniger als bei der vorigen Befragung 2017. Der Arbeitskreis vermutet jedoch eine deutlich höhere Dunkelziffer. Insgesamt wurden 1.380 Einrichtungen aus dem Antigewaltbereich sowie Jugendämter, Polizei, Migrations- und Frauenprojekte, Integrationsbeauftragte, Opferhilfe, Schulen und Geflüchtetenunterkünfte in Berlin befragt.

Der Befragung zufolge sind zwar mit 91 Prozent größtenteils Mädchen betroffen. Aber auch Jungen machen fünf Prozent der Fälle aus. Bei dieser Zahl sieht Böhmecke die Auswertung kritisch: »Hier ist die Dunkelziffer noch höher, es fehlen hier komplett die Zahlen. Auch deshalb, weil es kaum darauf spezialisierte Beratungsstellen für Jungen gibt.« Ein Prozent der Betroffenen hat ein diverses Geschlecht und bei drei Prozent der Fälle wurde keine Angabe zum Geschlecht gemacht. Die meisten Betroffenen seien wie schon bei der Befragung von 2017 zwischen 16 und 21 Jahre alt gewesen.

In ­Extremfällen auch Entführungen

Mädchen sind der Umfrage zufolge in höherem Maße und ab einem früheren Alter gefährdet, gegen ihren Willen verheiratet zu werden. Allgemein handelt es sich demnach bei den 38 Prozent der weiblichen Betroffenen um Minderjährige – also bei mehr als ­einem Drittel aller Zwangsverheiratungen. Die in der Umfrage erfassten Betroffenen stammen meist aus der Türkei, arabischen Ländern wie Syrien und den Balkanstaaten.

Zwangsverheiratungen finden oft in einem familiären Umfeld statt, in dem bereits andere Familienmitglieder zur Heirat gezwungen wurden. Um die Eheschließung durchzusetzen, wenden meist männliche Familienangehörige oft psychische Gewalt an, beschimpfen und bedrohen die Betroffenen. In ­Extremfällen kann es auch zu Entführungen kommen. Die Folgen von Zwangsheirat sind verheerend. Die Betroffenen werden sozial isoliert. Oft müssen sie die Schule abbrechen und kehren nicht mehr nach Deutschland zurück. Die Gefahr für häusliche und sexuelle Gewalt ist im Vergleich zu freiwillig geschlossenen Ehen erhöht. Die Mädchen werden früh und oft schwanger.

Die Gründe für eine Zwangsheirat sind vielfältig, dabei immer reaktionär. Stets, so Böhmecke, gingen sie einher mit tradierten Geschlechterrollen der Familien und dem Wunsch, die weib­liche Sexualität zu kontrollieren. Von den Mädchen werde erwartet, jungfräulich in die Ehe zu gehen und sich »richtig« zu verhalten, um die Fami­lienehre zu bewahren. Außerdem werde finanzielle Abhängigkeit forciert: »Es ist in den Augen der Familien nicht wichtig, dass sie eine Ausbildung machen oder beenden, weil sie ja sowieso heiraten werden und der Ehemann dann der Haupternährer ist.« Eine Zwangsheirat könne auch zur Disziplinierung dienen, beispielsweise bei Homosexualität.

Wichtig ist Präventivarbeit

Gemäß deutschem Recht ist eine Eheschließung nur bei vollem Einverständnis beider Parteien möglich. Zudem müssen beide volljährig sein. Eine Zwangsheirat ist demnach ein Straftatbestand, der mit mindestens sechs Monaten und höchstens fünf Jahren Haft geahndet wird. Ehen, die im Ausland geschlossen wurden und bei denen die Verheirateten bei der Vermählung 16 oder 17 Jahre alt waren, lassen sich in Deutschland aufheben.

»Dass ein betroffenes Kind Straf­anzeige gegen die eigenen Eltern stellt, kommt sehr selten vor.« Umso wichtiger ist die Präventivarbeit. Böhmecke fasst zusammen: »Wir sagen den Kindern: Holt euch Hilfe, bevor es zu spät ist, lasst euch beraten und fahrt nicht mit, wenn im Herkunftsland eine Hochzeit geplant ist oder ihr den Verdacht habt!« Auf jeden Fall sollten Betroffene anderen von ihren Ängsten und Befürchtungen erzählen, so Böhmecke. Neben der »Weißen Woche« bietet Terre des Femmes das Theaterprojekt »Mein Herz gehört mir!« an, das sich hauptsächlich an jüngere Schüler:in­nen ab der siebten Klasse wendet. Denn die Prävention setzt da an, wo die Kinder kurzfristig unabhängig von ­ihrer Familie agieren können: in der Schule.