Der Zusammenhang von sozialem Zerfall und Aufruhr in Großbritannien

Gesellschaft in Abwicklung

Faschisten haben jüngst eine Welle von Ausschreitungen im Vereinigten Königreich provoziert. Doch droht in Zukunft keine faschistische Gefahr, sondern die Fortsetzung der »riots«, wie sie seit Thatchers Zeiten gang und gäbe sind.

Die jüngsten Ausschreitungen in Southport und weiteren ehemaligen englischen Industriestädten sind mit jenen der ostdeutschen Volksgemeinschaft in Lichtenhagen oder Hoyerswerda kaum zu vergleichen. Sie stehen vielmehr in einer Tradition, die Margaret Thatcher und Tony Blair gestiftet haben. In dieser wird Gesellschaft rückabgewickelt in Familienbande und Communitys. Subsidiäre Strukturen, wie man so sagt, sollten an die Stelle von Gewerkschaften und Sozialstaat treten.

Verarmende Städte zerfielen in ethnische Zonen

Und das taten sie denn auch: Verarmende Städte zerfielen in ethnische Zonen, aus denen es kaum ein Entkommen gibt. Und es sind nicht nur die berühmt-berüchtigten sharia zones, in denen die Schwitzbuden- und Drogenökonomie das Einzige ist, was blüht. Immigranten können sich so nicht mehr aus Clanstrukturen lösen, Alteingesessene hingegen verschimmeln nach dem Niedergang der proletarischen Kleinfamilie wesentlich einsamer und damit transferabhängiger, ergo noch ärmer, in ihren Vierteln – und tendieren zu weißer Selbstethnisierung. Das ist britischer Alltag für Abgehängte.

Sogenannte Ghettoökonomie auf Basis kleinteiliger geographischer Segregation tendiert zum Bandenkrieg, den die Gangmitglieder nicht nur gegeneinander führen, sondern gegen alle, die irgendwie zu den »anderen« gehören. Und so sind es eben auch nicht immer weiße Polizisten oder Faschistengruppen, die Ausschreitungen auslösen: Ethnic tensions gibt es auch ohne deren Zutun wie etwa in Birmingham im Oktober 2005, als sich Banden mit karibischen Migrationshintergrund und solche mit pakistanischem bekriegten.

Von der Gesellschaft ausgeschlossen

Oft sind die Umstände auch gar nicht klar zu kategorisieren: Die größten Unruhen vor denen, die in Southport ihren Ausgang nahmen, waren jene, die 2011 in Tottenham begannen und sich ebenfalls auf andere Landesteile ausbreiteten. Der ursprüngliche Anlass, die Erschießung eines mutmaßlichen Gangsters durch die Polizei, spielte schon bald keine Rolle mehr: Schulen wurden angezündet, die Feuerwehr wurde angegriffen, teilweise auch scharf geschossen aus den Reihen von Plünderern.

Denn ums Plündern ging es hauptsächlich, kaum ein Wunder, gehört Tottenham doch zu den ärmsten Vierteln in Großbritannien. Der Sozialwissenschaftler Mike Hardy schätzt diese Sorte riots denn auch so ein, dass es weder »um Kultur, Religion oder Klasse geht, sondern um all jene, die sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen« – und dieses Gefühl trügt sie keineswegs.

Dass faschistische Gruppen den lange schon währenden Hass über Wochen weiter geschürt haben, ist erschreckend, doch leider auch nicht neu; schon die British National Party hatte in den Achtzigern und Neunzigern derlei angezettelt, allerdings noch ohne den ­Verstärkungseffekt, den die sogenannten sozialen Medien zeitigen.

Schon die British National Party hatte in den Achtzigern und Neunzigern derlei angezettelt, allerdings noch ohne den ­Verstärkungseffekt, den die sogenannten sozialen Medien zeitigen.

Falsch aber wäre es zu glauben, dass etwa die English Defence League mit Billigung einer weißen Mehrheitsgesellschaft handele. Diejenigen, die mit dem unteren Viertel der Gesellschaft nichts zu tun haben wollen, schätzen plebejische Ausschreitungen auch dann nicht, wenn sie im Namen der »englischen Kultur« veranstaltet werden.

Auch von einem einwanderungsfeindlichen Konsens kann keine Rede sein: Das untere Viertel der Gesellschaft will keine legale Einwanderung, weil die den Arbeitsmarkt für Prekäre belastet und Löhne drückt, das obere Viertel will hingegen keine illegale Einwanderung, weil die die Kassen belastet und die südenglische Golfplatz­idylle stört. Es droht also keine faschistische Gefahr, sondern, dass es so weitergeht wie die vergangenen Jahrzehnte schon. Das ist schlimm genug.