Die Bundesregierung will gegen Arbeitsverweigerer vorgehen; von denen gibt es aber gar nicht viele

Zwangssystem Bürgergeld

Mit strengeren Sanktionen beim Bürgergeld will die Bundesregierung künftig gegen sogenannte Totalverweigerer vorgehen. Dabei zeigen die amtlichen Zahlen, dass es sich um eine Scheindebatte handelt.

Ausgesucht hat er es sich nicht: Thomas B. leidet seit vielen Jahren unter Depressionen. In den vergangenen Jahren haben seine Beschwerden deutlich ­zugenommen, bis er schließlich nicht mehr arbeiten gehen konnte. Der 35jährige lebt seitdem von Bürgergeld. Das Jobcenter lud ihn weiterhin zu den obligatorischen Meldeterminen ein, zu denen er allerdings nicht erscheinen konnte. Bedingt durch seine Depressionen sind selbst kleinste Wege, die für gesunde Menschen nicht der Rede wert sind, undenkbar. Es gelingt ihm mitunter kaum, das Notwendigste zu erledigen, etwa einkaufen zu gehen.

»Während wir in der Schule und der Arbeitswelt positive Anreize setzen, loben und die Menschen unterstützen, folgen die Sanktionen einem antiquierten pädagogischen Ansatz der fünfziger Jahre.« Helena Steinhaus vom Projekt »Sanktionsfrei«

Dem Jobcenter reichte eine einfache Absage der Termine in seinem Fall jedoch nicht, es verlangte eine sogenannte Wegeunfähigkeitsbescheinigung. Die braucht es, wenn dem Jobcenter eine klassische Krankmeldung nicht ausreicht. Mit einer Wegeunfähigkeitsbescheinigung wird jemandem attestiert, einen Weg, etwa den zum Jobcenter, nicht zurücklegen zu können. Eine solche konnte B. jedoch nicht für alle Termine vorlegen. Er hatte es schlichtweg nicht geschafft, seinen Arzt zu kontaktieren. Das Jobcenter hat ihn daraufhin sanktioniert und seinen Leistungssatz für drei Monate um zehn Prozent gekürzt.

Fälle wie die von Thomas B. sollen eigentlich nicht vorkommen. »Die Belange von Bürgergeldbeziehenden mit gesundheitlichen Problemen beziehungsweise Einschränkungen werden umfassend berücksichtigt. Nur wenn ohne wichtigen Grund zum Beispiel Absprachen nicht eingehalten, Termine im Jobcenter nicht wahrgenommen werden oder eine zumutbare Arbeit nicht angenommen wird, sind Minderungen des Bürgergeldes möglich«, betont eine Sprecherin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) im Gespräch mit der Jungle World.

Helena Steinhaus vom Projekt »Sanktionsfrei« kann das nicht ernst nehmen. Ihr Projekt betreut viele Menschen, die Bürgergeld beziehen und vom Jobcenter sanktioniert wurden – obwohl ihre »Verweigerung« beispielsweise durch eine Krebs- oder HIV-Erkrankung verursacht wurde.

»An uns können sich Menschen wenden, deren Leistungen gekürzt wurden. Aus unserem Solidartopf konnten wir in den zurückliegenden Jahren für rund 5.500 Menschen die entstandene Lücke ausgleichen«, berichtet Steinhaus der Jungle World. Knapp eine Million Euro habe das Projekt bislang verteilen können. Der Solidartopf speise sich untere anderem aus Spenden.

Die Sanktionen sieht Steinhaus generell sehr kritisch: »Während wir in der Schule und der Arbeitswelt positive Anreize setzen, loben und die Menschen unterstützen, folgen die Sanktionen einem antiquierten pädagogischen Ansatz der fünfziger Jahre.« Strafen allein seien noch nie ein guter Motivator gewesen.

Für die Betroffenen geht es ans Eingemachte

Das BMAS ist hier anderer Meinung. »Die Regelung zum Entzug des Regelbedarfes bei Arbeitsverweigerung ist erst Ende März 2024 in Kraft getreten. Nach ersten Rückmeldungen aus der Praxis wird allein diese neue Möglichkeit des Leistungsentzuges im Sinne einer präventiven Wirkung positiv bewertet«, so die Sprecherin.

Für die Betroffenen geht es oft ans Eingemachte. Lehnt man eine sogenannte zumutbare Arbeit ab, kann die Leistung von 563 Euro zunächst für drei Monate um zehn Prozent gekürzt werden. Schrittweise kann diese Kürzung auf 30 Prozent gesteigert werden. Lehnt man zweimal ab, ist auch eine komplette Streichung des Bürgergelds für zwei Monate möglich.

Diese ohnehin schwerwiegende Sanktionierung soll, wenn es nach der Ampelkoalition geht, künftig noch rigider ausfallen. Aber auch die CDU fordert strengere Sanktionen. Die Diskussion über das Bürgergeld ist in den vergangenen Wochen wieder lebhafter geworden. Eingeführt am 1. Januar 2023, löste es das Arbeitslosengeld II – umgangssprachlich Hartz IV – ab.

Kretschmers Forderung reiner Populismus

Fortan sollte alles besser werden: Keine Diskriminierung mehr als »Hartzer«, leicht erhöhter Regelsatz, Sanktionen nur noch gegen sogenannte Totalverweigerer, also gegen diejenigen, die mehrfach »zumutbare« Arbeit ablehnen. »Der Geist des Bürgergelds ist der der Solidarität, des Zutrauens, der Ermutigung«, sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) Ende 2022.

Von diesem Geist ist nach eineinhalb Jahren wenig geblieben. Jüngst forderte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) eine Beweislastumkehr. In der Welt forderte er, wer Bürgergeld wolle, müsse nachweisen, dass er nicht in der Lage sei, zu arbeiten. »Diese Aussage ist reiner Populismus. Die Beweislast liegt doch heute schon beim Antragsteller. Im Antrag muss ich meinen Anspruch nachweisen«, so Steinhaus.

Kretschmers Schachzug ist dabei noch verhältnismäßig leicht nachzuvollziehen: Kurz vor der Landtagswahl versucht er – wieder einmal –, rechts­außen zu überholen. Aber auch die Parteien der Ampelkoalition wollen die Bürgergeldregelungen verschärfen. Im Zuge ihrer »Wachstumsinitiative« sollen die Hürden für den Bezug erhöht werden. Durchgesickert ist bislang, dass auch Arbeitswege von drei Stunden pro Tag zukünftig »annehmbar« sein soll. Leistungen sollen zudem schon beim ersten Regelverstoß um 30 statt bislang zehn Prozent für drei Monate gekürzt werden und die Karenzzeit beim Schonvermögen in Höhe von 40.000 Euro soll von einem Jahr auf sechs Monate schrumpfen.

»Minderungen aufgrund einer Weigerung der Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung, Maßnahme oder eines geförderten Arbeitsverhältnisses sind eher selten.« Heike Böttger, Jobcenter Hamburg

»Totalverweigerer« sollen der ­Vergangenheit angehören. Doch schaut man sich die Zahlen einmal genauer an, wird schnell klar, dass die Ampelkoalition hier eine Scheindebatte führt. Beispielhaft dafür sind die Zahlen des Job­centers in Hamburg. Von diesem beziehen rund 199.000 Leistungs­berechtigte und deren Angehörige ihre Grundsicherung. »Die allermeisten von ihnen kommen mit Leistungsminderungen, wie die Sanktionen inzwischen heißen, nie in Be­rührung«, so die Pressesprecherin des Jobcenters Hamburg, Heike Böttger, im ­Gespräch mit der Jungle World. Von »Totalverweigerern« spreche man in ihrer Behörde gar nicht.

Zuletzt ­seien mehr als 80 Prozent der Min­derungen wegen sogenannter Meldeversäumnisse ausgesprochen worden – nicht weil die Betroffenen Jobangebote abgelehnt hätten. »Minder­ungen aufgrund einer Weigerung der Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung, Maßnahme oder eines geförderten Arbeitsverhältnisses sind eher selten«, so Böttger ­weiter.

Die bösen »Totalverweigerer« – ein Hirngespinst? Die Zahlen der Agentur für Arbeit lassen es vermuten. Von etwa vier Millionen erwerbsfähigen Bürgergeldempfängern gelten 2,3 Millionen nicht als arbeitslos. Sie stehen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, zum Beispiel weil sie Angehörige pflegen oder Kinder betreuen.

Neiddebatte lenkt von der ungerechten Verteilung des Reichtums ab

Von den verbleibenden 1,7 Millionen arbeitslosen Menschen liegen bei 1,5 Millionen »Vermittlungshemmnisse« vor – wegen hohen Alters, fehlender Ausbildung oder einer Behinderung. Bei 235.000 Menschen gibt es keine Hemmnisse, dennoch gibt es auch hier Gründe, die gegen eine Beschäftigung sprechen – zum Beispiel wenn ältere Kinder betreut werden.

Zu den sogenannten Totalverweigerern zählt die Arbeitsagentur nur 16.000 Menschen – also vier Promille der erwerbsfähigen Bürgergeldempfänger. Und an diesem verschwindend ­geringen Satz arbeiten sich nun die Kretschmers dieser Republik und die Bundesregierung ab.

»Die meisten Menschen möchten ja arbeiten. Diese Neiddebatte lenkt von der ungerechten Verteilung des Reichtums ab«, so Steinhaus. Eine Vermögens- oder eine Erhöhung der Erbschaftsteuer werde nicht diskutiert. Stattdessen wird überlegt, wie man einem verschwindend geringen Anteil von ­Bürgergeldempfängern das Leben noch schwieriger machen kann.

»Das kann man so machen«, meinte SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert zur Zumutbarkeit der Berufswege im ZDF. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) äußerte seine Zustimmung zu härteren Sanktionen auf X: »Wer keine Lust hat zu arbeiten, obwohl er könnte, wird mit strengeren Regeln beim Bürgergeld konfrontiert. Das ist sozial gerecht und in Zeiten des Arbeitskräftemangels ökonomisch klug.«

Thomas B. macht die neuerliche Debatte Angst. Schon jetzt muss er mit Kürzungen leben. Ohne Hilfe und ärztliche Betreuung wird er auch in Zukunft die Termine beim Jobcenter nicht wahrnehmen können. Wie er dann mit noch weniger Geld auskommen soll, stellt ihn vor ein Rätsel.