Wie könnte eine gesellschaftliche Aushandlung von Bedürfnissen gelingen?

Fallstricke der Bedürfniskritik

Kritik an Bedürfnissen im Kapitalismus ist richtig, aber das eigentliche Problem ist die schwierige Frage, wie richtige von falschen Bedürfnissen unterschieden werden können und wie eine Aushandlung darüber gelingen kann.

Vor einem Jahr veröffentlichten Robin ­Celikates, Rahel Jaeggi, Daniel Loick und Christian Schmidt »11 Thesen zu Be­dürfnissen« auf der Website »Kritische Theorie in Berlin«. In seiner Kritik an ­diesem Text argumentierte Julian Kuppe, dass die Vermittlung von Bedürfnisbe­friedigung durch das Kapitalverhältnis zum Gegenstand der Kritik gemacht werden müsse (»Jungle World« 17/2024). Thomas Land verwarf hingegen generell Gesellschafts­kritik, die die Bedürfnisse zu ihren Ausgangspunkt nimmt, und forderte eine Kritik der Ausbeutung (19/2024). Jan Rickermann (20/2024) meint, der Kapitalismus habe Bedürfnisse ermöglicht, die es nicht ab­zuschaffen, sondern zu befreien gelte. Lucas Rudolph argumentierte, dass Bedürfnisse zuvorderst leibliche Regungen sind, die die Verhältnisse spiegeln (23/2024). Christian Schmidt insistierte, dass politische Kämpfe, denen radikale Bedürfnisse zugrunde lägen, bereits stattfänden (25/2024). Robin Becker widersprach der Vorstellung, dass Bedürfnisse heutzutage eine radikale und systemverändernde Kraft sein könnten (28/2024).

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Im Kapitalismus bleiben unzählige Bedürfnisse unbefriedigt und zugleich ruiniert die Befriedigung zahlreicher Bedürfnisse Mensch und Natur. Eine Kritik der Gesellschaft scheint daher um Bedürfnisse nicht herumzukommen. Auf den ersten Blick provoziert eine kritische Theorie der Bedürfnisse aber einen berechtigten Einwand, den auch Julian Kuppe und Thomas Land in ihren Beiträgen vorbringen: Der Kapitalismus zählen nicht menschliche Bedürfnisse, sondern zahlungskräftige Nachfrage. Anstatt sich lange über Bedürfnisse den Kopf zu zerbrechen, sollte man daher den Kapitalismus kritisieren. Mit dem Kapitalismus würde sich dann auch das nachgelagerte Problem der Bedürfnisse erledigen: Die guten werden befriedigt und die falschen fallen weg. Man kann, wie Land schreibt, die Systemtransformation ­daher nicht von den Bedürfnissen her denken.

Aber: Man kann Bedürfnistransformation auch nicht allein von der Systemtransformation her denken. Wie Lucas Rudolph zu Recht einwendet, sind Bedürfnisse nämlich selbst immer schon politisch. Man sollte Bedürfnisse in der Tat nicht (sozial)philosophisch hypostasieren und aus dem ökonomischen System gänzlich herauslösen. Man sollte aber auch nicht den umgekehrten Fehler machen, sie restlos in das ökonomische System aufzulösen und nur noch als zweitrangigen Anhang der Gesellschaftsordnung verstehen.

Auch den Sozialismus positivistisch als Befriedigung von Bedürfnissen verstehen, die im Kapitalismus unerfüllt geblieben sind, im Sozialismus aber unverändert fortbestehen (so wirkt es bisweilen bei Kuppe), ist ein Fehler. Dann läuft man nämlich Gefahr, den Sozialismus einfach als eine vergrößerte Konsumparty der Reichen zu verstehen. Man sollte aber auch nicht negativistisch eigentlich alle Bedürfnisse im Kapitalismus als kontaminiert disquali­fizieren (in diese Richtung gehen die »11 Thesen« von Kritische Theorie Berlin). Das führt nämlich schnell in den leeren Utopismus einer unabsehbaren Transformation der Bedürfnisse.

Je weniger Vermittlungsinstanzen und -medien im Spiel sind (Markt, Geld, Wahlen, formale Prozesse et cetera), desto ungebremster prallen unterschiedliche Ansichten, Prä­­fe­renzen und Bedürfnisse aufeinander.

Auch bei der Frage nach richtigen oder falschen Bedürfnissen sind zwei Fallstricke zu vermeiden: erstens ein ­liberaler Indifferentismus (»man kann nur für sich selbst entscheiden, was ein richtiges oder falsches Bedürfnis ist«) und zweitens ein paternalistischer Substantialismus (»es lässt sich allgemeingültig feststellen, was ein richtiges oder falsches Bedürfnis ist«). Beide Optionen gibt es in kapitalistischer und sozialistischer Variante: Gibt es keine Unterscheidung zwischen wahren oder falschen Bedürfnissen, regelt sich über den Markt oder über kollektive politische Deliberation (zum Beispiel Kon­su­ment:innenräte), welche Bedürfnisse zum Zuge kommen. Geht man hingegen von verbindlich feststellbaren wahren Bedürfnissen aus, hat ein technokratischer administrativer Apparat ihre ­Befriedigung zu regeln (der bürgerliche Sozialstaat oder eine sozialistische Planungsbehörde).

Der Vorschlag der kollektiven Deliberation, den Kritische Theorie Berlin in den »11 Thesen« formuliert, ist zwar sympathisch, reicht als Antwort auf das Problem aber nicht aus: Eine Deliberation findet schließlich nicht im luftleeren Raum statt und fällt auch nicht vom Himmel. Sie ist in jeder Gesellschaftsordnung in konkrete gesellschaftliche, historische und Naturverhältnisse eingebettet. Da auch eine tiefgreifende gesellschaftliche Trans­formation keine tabula rasa ist, wird sich das Problem der falschen Bedürfnisse auch im Sozialismus noch stellen. Kollektive Deliberation muss außerdem vermittels konkreter Prozesse und Institutionen organisiert werden, die aber ihrerseits kaum jemals ein rein neutrales Instrument zur Entscheidungsfindung sein können, sondern unvermeidlich normativ aufgeladen sind.

Gefahren von Konflikten und Unterdrückung

Außerdem ist nicht zu vergessen, dass kollektive Deliberation von Bedürfnissen keine harmonische Angelegenheit ist. Je weniger Vermittlungsinstanzen und -medien im Spiel sind (Markt, Geld, Wahlen, formale Prozesse et cetera), desto ungebremster prallen unterschiedliche Ansichten, Präferenzen und Bedürfnisse aufeinander. Das ­Konfliktpotential ist groß. Erst recht, wenn es um kollektive Verhandlung individueller Bedürfnisse geht. Subjek­tive Eigenheiten und Idiosynkrasien lassen sich kaum durch rationale Verständigungsprozesse in eine allgemeine Übereinkunft auflösen. Ungezwun­gene Selbstmitteilung einerseits und Rechtfertigungsdruck andererseits stehen sich hier hart gegenüber und sind zugleich beide für eine gelungene Deliberation der Bedürfnisse unabdingbar. Hinter diesen Schwierigkeiten lauern Gefahren von Konflikten und Unterdrückung, an denen politische Gesellschaften zerbrechen können.

Daher könnten anonyme und womöglich sogar marktverwandte Formen der Abstimmung und Vermittlung ein unverzichtbarer Bestandteil einer solidarischen Gesellschaft sein. Cyberkommunismus und Schlaraffenland-Phantasien sind hier übrigens auch keine Lösung, sondern nur eine verlegene Ausflucht: Das Problem einer Abstimmung der Bedürfnisse durch Vollautomatisierung und Luxus für alle zu lösen, ist eine unpolitische Illusion, und ihr mangelnder Realitätsbezug wird ­angesichts des Klimawandels erst recht deutlich.

Wie Thomas Land gegen die »11 Thesen« einwendet, reicht es nicht aus, unter falschen Bedürfnissen solche zu fassen, deren Be­friedigung anderen indirekt Schaden zufügt. Denn in einem System, das als Ganzes auf Herrschaft und Ausbeutung beruht, erfüllen sämtliche Bedürfnisse dieses Kriterium. Um Scheinbedürfnisse und Ersatzbefriedigungen kritisieren zu können, ist das Konzept falscher Bedürfnisse aber wichtig.

Spezifische Bedürfniskritik

Was könnte aber ein sinnvolles Kriterium für falsche Bedürfnisse sein? Man steht vor einem Dilemma: Misst man Bedürfnisse an einem externen Maßstab, legt man damit allgemeingültig fest, welche Bedürfnisse akzeptabel sind; misst man sie hingegen nur an sich selbst, fehlt ein kritischer Maßstab. Um ein extremes Beispiel zu wählen: Vergnügt den Folterer das Foltern, kann es sich nach rein internen Kriterien nicht um ein falsches Bedürfnis handeln. Es ist zwar richtig, solche Bedürfnisse nach Leid scharf zu sanktionieren. Damit ist aber nur äußerlich eine moralische Leitplanke formuliert, nicht hingegen eine spezifische Bedürfniskritik.

Um dem Dilemma zu entkommen, muss man einen anderen Weg wählen: Falsche Bedürfnisse sind solche, die sich selbst widersprechen. Anders als man intuitiv vielleicht meinen mag, können damit nicht solche Bedürfnisse gemeint sein, die sich nicht befriedigen lassen. Dann wären nämlich auch radikale Bedürfnisse und existentielle Sehnsüchte disqualifiziert. Falsche Bedürfnisse wären eher als solche zu verstehen, die gerade in ihrer Befriedigung zugleich unbefriedigt bleiben.

Das kapitalistische System von Produktion und Konsumtion, die end- und maßlose Selbstbewegung des Kapitals sowie die immer weiter wachsende Warenansammlung lassen sich als egomanische Versuche verstehen, die Bedürftigkeit und Endlichkeit des Menschen zu verleugnen. Die rastlose Anhäufung von Waren und Geld soll nur scheinbar einzelne Bedürfnisse befriedigen, letztlich hat sie das Ziel, der ­eigenen Bedürftigkeit und Endlichkeit überhaupt zu entkommen. Dieses Ziel ist für den endlichen Menschen aber unerreichbar. Daher bleibt stets ein verzweifeltes Bedürfnis nach mehr, und der zum Scheitern verurteilte Versuch, dieses zu befriedigen, schafft Leiden. Hinter falschen Bedürfnissen steht der Drang, Bedürfnisse loszuwerden, weil sie uns an die Endlichkeit und Begrenztheit unserer Existenz erinnern. Es sind Bedürfnisse, die sich selbst widersprechen, weil sie gegen die Bedürftigkeit als ­solche gerichtet sind.

Fiebriger Herrschafts- und Kon­trollwahn

Bedürfnislosigkeit als Überwindung der Endlichkeit ist ein fiebriger Herrschafts- und Kon­trollwahn. Das gilt übrigens nicht nur für die exzessive, sondern gleichermaßen für die as­ketische Ausprägung des Wahns, Bedürftigkeit zu überwinden. Demgegenüber ist Bedürfnisbegrenzung als Bejahung der Endlichkeit und als Selbstzurücknahme des Menschen in Natur und in das Gattungswesen eine Befreiung von diesem Wahn.

Dabei darf es sich aber nicht einfach um eine Rationalisierung von Verzicht handeln. Eine solche Rationalisierung ist nämlich selbst dann noch Ideologie, wenn Verzicht aus Solidarität mit Mitmenschen und aus Rücksicht auf die Natur notwendig und geboten ist. Er erfolgt dann aus Einsicht in die Notwendigkeit, darf aber deswegen nicht überhöht werden: Wenn Verzicht nicht mehr nötig ist, muss es möglich sein, damit aufzuhören. Wir werden zu Menschen in der unendlichen Verfeinerung und Erweiterung unserer Bedürfnisse, das sahen schon Hegel und Marx so. Auch Jan Rickermann und Christian Schmidt plädieren in ihren Beiträgen für eine solche Befreiung der Bedürfnisse.

Das ist aber nur die eine Hälfte der Wahrheit: Wir sind als historische ­Wesen permanenter Entwicklung fähig, aber als natürliche Wesen zugleich ­unhintergehbar beschränkt. Darin besteht die Paradoxie des Menschen und menschlicher Bedürfnisse, zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit eingespannt zu sein. Es ist daher einseitig, die Befreiung menschlicher Bedürfnisse ausschließlich als permanente Steigerung und Expansion zu verstehen. Die Befreiung der Bedürfnisse muss ­gleichermaßen der Endlichkeit und Begrenztheit des Menschen Rechnung tragen.