Vor den Parlamentswahlen in Georgien treibt die Regierung den autoritären Staatsumbau voran

Georgiens autoritäre Wende

Die georgische Regierung hat vor der anstehenden Parlamentswahl dafür gesorgt, dass sie die Opposition und gesellschaftlichen Protest unterdrücken kann. Die politische Krise hat zwar spezifische ökonomische Ursachen, ist aber typisch für eine weltweite Entwicklung.

Wenige Wochen vor den Parlamentswahlen führt die politische Krise in Georgien zu kontroversen Diskussionen. In diesem Beitrag kritisiert Luka Nakhutsrishvili, der zu den entschiedenen Gegnern des autoritären Staatsumbaus der georgischen Regierung zählt, auch die internationale linke Debatte.

*

Tiflis. Wenige Wochen vor der Parlamentswahl Ende Oktober befindet sich die Partei Georgischer Traum, die das Land seit 2012 regiert und de facto von dem Oligarchen Bidsina Iwanischwili kontrolliert wird, auf Konfrontationskurs mit weiten Teilen der georgischen Gesellschaft. Hunderttausende hatten im Frühjahr monatelang regelmäßig in Tiflis und anderen georgischen Städten gegen das »Gesetz für Transparenz des ausländischen Einflusses« protestiert, das, anders als der Name suggeriert, weniger für Transparenz sorgen soll als für Möglichkeiten, nichtstaatliche Organisationen öffentlich zu stigmatisieren und zu schließen. Trotz der Proteste wurde es verabschiedet und trat Anfang Juni in Kraft.

Noch vor einem Jahr hatte die Regierung angesichts ebenfalls heftiger Proteste eine ähnliche, damals »Gesetz zur Registrierung ausländischer Agenten« genannte Initiative zurückgezogen. Doch nun gibt sie sich kompromisslos. Auf die in der jüngeren Geschichte Georgiens beispiellos große Massenmobilisierung antwortete sie mit Staatsterror: Politiker und regierungsnahe Medien betreiben Hetzkampagnen, Menschen werden eingeschüchtert durch anonyme Drohanrufe, brutale Gewalt von Polizei und staatlich kontrollierten Schlägertrupps sowie durch Verhaftungen, das von Iwanischwili und seinen Gefolgsleuten vereinnahmte Justizwesen verhängt drakonische Strafen. So erfuhren die Protestierenden, noch bevor das Gesetz verabschiedet wurde, dass dieses sich nicht nur gegen eine handvoll »übermächtiger« NGOs richtet, sondern dazu dienen soll, jegliche Kritik aus der Gesellschaft zu unterdrücken.

Tatsächlich werden Nichtregierungsorganisationen im Gesetz nicht einmal genannt. Es geht um jedwede nichtunternehmerische, nichtkommerzielle juristische Person – also beispielsweise Vereine, Verbände oder Stiftungen –, die nicht von einer staatlichen Instanz gegründet worden ist und mehr als 20 Prozent ihrer Finanzierung aus dem Ausland erhält. Diese umfassende Definition würde dem Staat freie Hand geben, sogar eine Basisbewegung wie die, die sich ab 2020 gegen den Bau des Namochwani-Wasserkraftwerks im Westen Georgiens formierte, zum »Agenten ausländischen Einflusses« zu erklären, da sie in erheblichen Maßen von Spenden georgischer Arbeits­mi­grant:in­nen abhing. Und in der Tat brandmarkte die Regierung die Anführer dieser Bewegung sowie alle, die sie unterstützten – Aktivist:innen, Juris­t:in­nen, Ökolog:innen, Künst­ler:in­nen, Wis­sen­schaftler:innen (darunter der Autor dieses Textes) –, regelmäßig als auslän­dische Agenten, und das lange bevor diese Kennzeichnung durch ein Gesetz institutionalisiert worden war.

Der Einfluss, den das Gesetz gegen ausländischen Einfluss in erster Linie neutralisieren wird, ist der von unabhängigen Medien, sozial und ökologisch ausgerichteten NGOs und Basisbewegungen.

Konsequenterweise wurde gleichzeitig mit diesem Gesetz das sogenannte Offshore-Gesetz verabschiedet, das es Individuen und Unternehmen ermöglichen wird, ihre weltweit in Offshore-Finanzplätzen untergebrachten Vermögen steuerfrei nach Georgien zu transferieren. Georgien, diese seit der »Rosenrevolution« im Jahr 2003 Wirklichkeit gewordene Dystopie eines ungehemmten Wirtschaftsliberalismus, soll so zu einem Zentrum für Geldwäsche werden. Vor dem Hintergrund dieser jeglicher wirtschaftlichen Souveränität spottenden Maßnahme mutet es besonders absurd an, dass die georgische Regierung, die sich in ihrer politischen Ausrichtung immer mehr dem Nationalkonservatismus und Rechtspopulismus nach der Art Viktor Orbáns annähert, das Agentengesetz als unverzichtbare Waffe im Kampf für die Stärkung ­nationaler Souveränität präsentiert. Der Einfluss, den das Gesetz gegen ausländischen Einfluss in erster Linie neutralisieren wird, ist der von unabhängigen Medien, Enthüllungsjournalist:innen, sozial und ökologisch ausgerichteten NGOs und Basisbewegungen.

Überhaupt riskiert man, durch einen auf das Agentengesetz eingeengten Blick das allgemeine repressive Klima außer Acht zu lassen, das der Georgische Traum geschaffen hat. So erlaubt unter anderem eine drakonische Änderung in der Strafprozessordnung, die Beschädigung von Eigentum als Vorwand zu nehmen, um jede Art von sozialem Protest zu kriminalisieren – sei es Widerstand gegen Zwangsräumungen, seien es Proteste von Dorfbewohnern gegen unregulierten Bergbau, der buchstäblich die Erde unter ihren Häusern aushöhlt, oder Mobilisierungen gegen die Privatisierung eines öffentlichen Naturdenkmals. Die Grenze zwischen Staats- und Privatinteresse ist dabei vollends verschwunden: Privatinvestoren, die sich durch Beziehungen zur Regierung Gemeingut angeeignet haben, können sich jederzeit auf Polizei und Justiz verlassen, die ihrer institutionellen Unabhängigkeit beraubt sind.

Neoliberaler Autoritarismus nichts Neues für Georgien

Grundsätzlich ist neoliberaler Autoritarismus nichts Neues für Georgien. Waren es doch die extreme wirtschaftsliberale Politik und der immer autoritärere Regierungsstil der Regierung der »Rosenrevolution« unter Michail ­Saakaschwili, die dazu führten, dass 2012 Georgier mehrheitlich für den ­Georgischen Traum stimmten und Saakaschwilis Vereinte Nationale Bewegung abwählten. In Kontrast zum betonten Verwestlichungsdrang der Ära Saakaschwili aber wird der heutige neoliberale Autoritarismus mit einer ausgesprochen antiwestlichen Sauce serviert. Nachdem der Georgische Traum anfangs mit sozialdemokratischen Vorstellungen geliebäugelt ­hatte, versucht die Partei nun, sich am globalen rechtsextremen Kulturkampf zu beteiligen. Die Hofintellek­tuellen scheinen dem Oligarchen ­Iwanischwili ins Ohr geflüstert zu haben, das Blatt wende sich weltweit ­zugunsten rechtsextremer Kräfte; Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kämen allmählich aus der Mode.

Angesichts der institutionellen Anforderungen, was Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Achtung von Grundrechten et cetera betrifft, die mit einer sich vertiefenden EU-Integration einhergehen, scheint für den Georgischen Traum die Distanzierung vom Westen ohnehin der beste Weg zur Sicherung der eigenen Macht zu sein. Ebenfalls zu den Gesetzesinitiativen der Regierung in den vergangenen Monaten gehörte ein umfassendes Gesetzespaket gegen »LGBT-Propaganda« und zum Schutz von »Familienwerten« und Minderjährigen.

Lob dafür wie auch allgemein für die repressiven Gesetze gegen »ausländischen Einfluss« kommt aus Russland: Dessen Außenminister Sergej Lawrow sagte vergangene Woche, viele Länder fingen an zu verstehen, »dass dieser Schlot der liberalen Demokratie, in den der Westen sie hineinsaugt, im Widerspruch zu ihren Wurzeln und der Tradition ihrer Vorfahren steht«. Georgien aber schütze seine nationale Identität gegen die »›Regeln‹, die der Westen ­allen auferlegt«.

Die Beschwörung von »Familien­werten« wirkt besonders zynisch, wenn man bedenkt, dass gerade die Wirtschaftspolitik und die ökonomische Lage, für die der Georgische Traum verantwortlich ist, jährlich um die Hunderttausend Georgier:innen in die Arbeitsmigration treiben und so Familien auseinanderreißen. Mit einem weltweit erprobten rechtsextremen Manöver will der Georgische Traum ohnehin marginalisierte Menschen – in diesem Fall die, die aus dem heteronormativen Rahmen herausfallen – zu Bürgern zweiter Klasse machen. Damit wird das Leben der meisten Georgier:innen zwar um kein Stück besser, aber zumindest werden sie wissen, dass es Leute gibt, denen es noch schlechter geht.

Umso schlimmer für die Tatsachen

Bei der Ende Oktober bevorstehenden Parlamentswahl stehen die noch übrigbleibenden Reste georgischer Demokratie auf dem Spiel. Einige Kommentatoren behaupten, der Druck, den der Westen seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine 2022 auf das Land ausübt, Partei gegen Russland zu ergreifen und beispielsweise die westlichen Sanktionen zu unterstützen, habe den Georgischen Traum in die rechtsextreme Ecke getrieben; Georgien habe sich gezwungen gesehen, westliche Einflüsse von sich zu weisen, um nicht in den Krieg hineingezogen zu werden – als würde hier eine Regierung dem westlichen Imperialismus und seinen lokalen Marionetten Widerstand leisten und die nationale Souveränität gegen sie verteidigen.

Tatsächlich stößt man im englisch- und deutschsprachigen Raum immer öfter auf eine sich als links verstehende Kritik, die zu einem solchen Schluss einlädt, indem sie an all den erwähnten Tatsachen und Zusammenhängen vorbeigeht und eine Sicht reproduziert, die das Verständnis der lokalen Zustände und Kräfteverhältnisse konsequent verstellt. Als Musterbeispiel sei auf den auf einen Artikel von Almut Rochowanski, Sopo Japaridze und Revaz Karanadze mit dem Titel »Georgien: Ende eines neoliberalen Alptraums« verwiesen, der während der Proteste im Mai in der Tageszeitung ND erschien. Die Probleme dieses Textes und anderer, etwa im sozialistischen Magazin Jacobin, gehen über ein paar Verdrehungen und Desinformation hinaus, vielmehr steht er exemplarisch für die problematische Weise, in der im sich links positionierenden Teil der westlichen Öffentlichkeit über periphere Staaten und die dort herrschenden Verhältnisse gesprochen wird.

Die Grenze zwischen Staats- und Privatinteresse ist verschwunden: Privatinvestoren, die sich durch Beziehungen zur Regierung Gemein­­gut angeeignet haben, können sich auf Polizei und Justiz verlassen.

Der Artikel im ND verharmlost systematisch die Vorgeschichte, den rechtlichen Inhalt sowie die gesellschaftlichen Konsequenzen des Agentengesetzes. Schon im ersten Satz geben die Autor:in­nen es als eine ausgemachte Tatsache aus, dass das Gesetz »ausländische Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen transparent machen soll«, schweigen sich aber über die repressiven Ziele der georgischen Regierung weitestgehend aus. Durchaus in Einklang mit den talking points des Georgischen Traums wird behauptet, »der Anlass der aktuellen Krise« bestehe dar­in, »dass einige wenige, vom Ausland unterstützte NGOs offene Parteipolitik betreiben und seit Jahren den Umsturz der Regierung planen, worauf die Regierung mit einem Rundumschlag gegen alle NGOs reagiert«. Die Autor:in­nen reproduzieren damit die von der Regierung ständig betonte Dichotomie: Auf der einen Seite gebe es eine »von außen« (sprich: vom Westen) unterstützte Clique oppositioneller Parteien, die einen Regimewechsel, eine zweite »Farbenrevolution«, anstreben; auf der anderen Seite stehe eine patriotische Regierung, die vorgibt, durch die Niederhaltung solcher Kräfte das kleine Georgien vor der Verwicklung in den Konflikt des Westens mit Russland zu schützen.

Dabei ist vieles, was Rochowanski, ­Japaridze und Karanadze an Kritik der georgischen Verhältnisse anführen, durchaus zutreffend. In einem kaputtgesparten Staat übernehmen NGOs immer mehr soziale Funktionen; tatsächlich verknüpfen die Bürger:innen Georgiens »Europa«, also die EU, in erster Linie mit der Hoffnung auf basale soziale Sicherheit, während sowohl die Regierung als auch die Opposition die sozialstaatlichen Wünsche und Interessen der Bürger konsequent ignorieren; tatsächlich ist es alles andere als ausgemacht, dass Georgiens Eingliederung in die EU automatisch zu allgemeinem Wohlstand führen wird. Dennoch läuft die Darstellung der politischen Krise als ein reines NGO-Problem auf nicht viel mehr als eine ­indirekte Rechtfertigung der Absichten einer machtsüchtigen autoritären Regierung hinaus.

Der Leserschaft wird eine Kaskade von Karikaturen serviert, die von einem nicht weniger kolonialen Blick zeugt als dem, welchen sie am von westlichen Geldgebern bestimmten NGO-Wesen kritisieren. »Fragt man die Menschen in den Dörfern, worüber NGOs mit ­ihnen diskutieren wollen, dann nennen sie Themen wie Autismus, Feminismus oder die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. Zu Hause mit ihren Lieben besprechen sie dann, dass sie weder Lebensmittel noch Benzin bezahlen können.« Als hätten in Armut lebende Familien keine Mitglieder, die außerdem an bestimmten physischen oder psychischen Behinderungen leiden würden.

Solche Klischees werden unvermeidlich, wenn man von einem verkümmerten, ja paternalistischen Verständnis des »Sozialen« ausgeht. Hat man erst einmal dogmatisch »soziale« und »politische« Fragen voneinander getrennt, so kann man auch behaupten, die arbeitende Bevölkerung habe bei den Protesten gegen das Agentengesetz nichts zu suchen und nichts zu verteidigen. Ständig werfen Rochowanski, Japaridze und Karanadze den liberalen NGOs und ihren westlichen Geldgebern vor, soziale Bedürfnisse und Rechte durch einseitige Fokussierung auf »klassische Bürgerrechte« verdrängt zu haben. Weniges ist aber so borniert liberal wie ihre strikte Trennung von politisch-bürgerlichen und sozialen Rechten und Interessen. Damit wird nur die Entpolitisierung derjenigen breiten Schichten befördert, die sich durchaus besorgt zeigen um Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und andere »bürgerliche« Werte sowie um die Gefahren, die deren Verlust eben auch für soziale Kämpfe und Rechte bedeuten wird.

Keine Illusionen unter georgischen Linken

Die »weltfremden« Anliegen von Minderheiten, wie das an den Haaren herbeigezogene Beispiel von »Sex­ar­bei­ter*innen aus ethnischen Minderheiten in Hochalpinregionen«, werden »realen« Probleme der Arbeiterschicht gegenübergestellt, um die vermeintliche Realitätsferne der NGOs zu belegen. Von besonders großer feministischer Sensibilität zeugt auch nicht die Schilderung junger georgischer Frauen, die angeblich einem Phantasiebild eines geschlechtlich gleichberechtigten Europa nachlaufen, »wie sie es aus westlichen Netflix-Serien zu kennen glauben«. Dagegen wäre für »ihre männlichen Altersgenossen« die EU-Mitgliedschaft die lang ersehnte Gelegenheit, »Teil einer geopolitischen Supermacht (zu werden), die es Russland zeigen kann«, und somit ihre durch den 2008 gegen Russland verlorenen Krieg frustrierte Männlichkeit endlich auszutoben.

Kaum jemand unter georgischen Linken hegt Illusionen, dass irgendeine der Oppositionsparteien im Mindesten willig wäre, ein System zu ändern, das seit Jahrzehnten auf hemmungsloser Marktwirtschaft basiert. Im Augenblick besteht das Mindestziel darin, bei der bevorstehenden Parlamentswahl eine dauerhafte Einparteienherrschaft des Georgischen Traumes zu verhindern und der politischen Gleichschaltung und Verflechtung von Partei, Staat und privaten Interessen ein Ende zu setzen. Ein Parlament mit mehreren Parteien, das diese zwingen würde, Kompromisse und Koalitionen zu suchen, würde außerparlamentarische gesellschaftliche Kräfte und Initiativen wieder in die Lage versetzen, auch zwischen den Wahlterminen demokratischen Druck auszuüben.

Wird allerdings die Wirklichkeit so entstellt, wie es die hier kritisierten Autor:innen tun, so entsteht leicht ein Bild von Georgien, das vor allem dazu dient, die ohnehin von unbeirrbarer EU- und Nato-Skepsis bestimmten Vorstellungen eines internationalen linken Publikums zu bestätigen. Dieses Bild spielt einer autoritären nationalkonservativen Regierung in die Hände, denn es fördert eine nihilistische Gleichgültigkeit. Eine Gleichgültigkeit, die sich damit begnügt, auf die Doppelmoral westlicher Regierungen in verschiedenen internationalen Konflikten sowie auf die autoritären Tendenzen in vielen westlichen Ländern hinzuweisen, um die Kritik an den gleichen Tendenzen in nichtwestlichen Staaten zu diskreditieren und sie gar als Dekolonisierung anzupreisen.

Der Alptraum von »Multipolarität«

Diese nihilistische Kritik lässt viele westliche Linke Entwicklungen gutheißen, die wir in Georgien direkt zu ­spüren bekommen. So läuft dieser what­about­ism darauf hinaus, dass uns die Regierung zynisch verspricht, Straßenprotesten mit Skrupeln bei der Gewaltanwendung zu begegnen, die »höher sind als die europäischen«. Auf den Appell der französischen oder der US-Regierung, auf Gewalt gegen Demonstrierende zu verzichten, entgegnet der georgische Ministerpräsident Irakli Kobachidse, in Frankreich und den USA gehe man doch noch viel brutaler gegen propalästinensische Studenten oder gegen Kritiker der Rentenreform Macrons vor.

Das ist der »Hobbesianische Alptraum der Multipolarität«, von dem neulich der marxistische Dissident Boris Kagar­lizkij aus dem russischen Gefängnis schrieb: eine Weltordnung der verallgemeinerten Willkür und der ihr unterstehenden kleineren Mächte. Die indische Kommunistin Kavita Krishnan ihrerseits bezeichnete diese Ideologie der »Multipolarität« treffend als »die Freiheit, faschistisch zu sein«. Die internationalen Normen sind oft unwirksam und kommen meistens nur den ohnehin Mächtigen zugute. Doch sich einer Weltordnung zuzuwenden, in der überhaupt keine universellen ­Werte der Gerechtigkeit gelten, liefe auf eine Absage an jegliches emanzipato­rische Ideal hinaus.

Nun will es die Spezifik des georgischen Kontexts, dass der dortige Kampf für diese universellen Werte unter dem für viele im Westen inzwischen diskreditierten Begriff »Europa« und der EU-Flagge gekämpft wird. Bezeichnen die Protestierenden das Agentengesetz als »russisch«, so steht der Name »Russland« für einen entfesselten ­Autoritarismus, unter dem man keineswegs leben möchte. Ebenso beinhaltet das, was von den Protestierenden unter dem Namen »Europa« verteidigt wird, nicht nur die erwünschte soziale Sicherheit, sondern auch Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Dass dieses Ideal in vielen EU-Staaten selbst mit Füßen getreten wird, heißt nicht, dass wir ­bereit sind, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Es geht nicht darum, zu verhindern, dass ein »europäisches« Land nach »Asien« hinübergeschleppt wird, wie es einige proeuropäische georgische Chauvinisten sehen mögen, die Georgien ohnehin gerne als die äußerste und treueste Grenzwächterin der »Festung Europa« darstellen. Es geht darum, zu verhindern, dass Georgien dahin abdriftet, Teil einer Internationale autoritärer, souveränistischer Schurkenstaaten zu werden, die einander darin bestärken, Menschenrechte seien eine westliche Erfindung, die zur Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten benutzt wird. Es entspricht durchaus der Machtlogik des Georgischen Traums, sich dieser globalen Gemeinschaft autoritärer Staaten zuzugesellen, die im Namen von Souveränität die Einmischung in »interne« Angelegenheiten anderer ablehnen, wie es bemerkenswerterweise die chine­sische Botschaft in Georgien kundgab, als man sie im Mai um einen Kommentar zum Agentengesetz und der staatlichen Gewalt gegen Protestie­rende bat.

Angesichts des wachsenden Interesses Chinas am »Mittelkorridor« der Belt and Road Initiative, auch bekannt als Neue Seidenstraße, im Südkaukasus ist es der Volksrepublik willkommen, in Georgien ein autoritäres Regime vorzufinden, das chinesische Investitionen in beschleunigtem Tempo und ohne große soziale oder ökologische Auflagen ­bewilligen und nötigenfalls gegen den Willen der eigenen Bevölkerung durchsetzen kann. Auch wo es um die Kooperation Georgiens mit der EU geht, welche ja trotz der Suspendierung des EU-Beitrittsprozesses nicht aufhört, wird die Unterdrückung jeglicher Möglichkeit demokratischer Mobilisierung dazu führen, dass Georgier:innen die Bedingungen dieser Kooperation nicht mitbestimmen können und das Land somit lediglich zur Extraktion von Rohstoffen dienen könnte.

Sich einer Weltordnung zuzuwenden, in der überhaupt keine universellen Werte der Gerechtigkeit gelten, liefe auf eine Absage an jegliches eman­zi­patorische Ideal hinaus.

Noch kritisiert die EU die Entwicklungen in Georgien scharf, doch wie in Serbien, wo sich die deutsche Regierung im Interesse der Autoindustrie für den Lithiumbergbau einsetzt, gegen den es heftige Proteste der serbischen Bevölkerung gibt, ist es durchaus vorstellbar, dass die EU sich auf einen Pakt mit einer autoritären georgischen Regierung einlässt, die ihr die Ausbeutung insbesondere der in Georgien reichlich vorhandenen Wasserkraftkapazitäten erlauben wird. Menschenrechtsverletzungen könnte die EU dabei taktvoll über­sehen, wie es beispielsweise beim Erdgaslieferanten Aserbaidschan bereits die Regel ist.

Wir in Georgien werden für die Normen, die von der EU oft als »westliche Werte« vereinnahmt und als ihr partikularer Exklusivbesitz präsentiert werden, auch dann kämpfen müssen, wenn die EU selbst keinen Druck mehr auf eine autoritäre Regierung ausüben sollte. Theoretisch kann man für Menschenrechte und Demokratie durchaus auch unabhängig von der EU-Mitgliedschaft einstehen; es gibt weltweit Staaten, die das tun. Es wäre aber Selbstbetrug, angesichts der autoritären Wende der georgischen Regierung und des nicht gerade verlockenden Angebots an politischen Alternativen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft zu meinen, dass es in einem kleinen Land wie Georgien möglich wäre, sie zu erkämpfen, ohne dass sich das Land dem EU-Raum und den dort postulierten Normen wieder annähert. Sollte es gelingen, bei den Wahlen Ende Oktober Georgiens Sturz in den Autoritarismus vorläufig aufzuhalten, steht der noch längere, durch demokratische Mobilisierung zu führende Kampf bevor, ­sicherzustellen, dass diese universalistischen Normen tatsächlich für alle gelten.

*

Luka Nakhutsrishvili


Luka Nakhutsrishvili ist Assoziierter Professor für Philosophie an der Staatlichen Ilia-Universität in Tiflis und forscht zur Geschichte und Gegenwart von Modernisierungs­projekten, Widerstand und Revolution in Georgien. Auf Deutsch hat er unter anderem den 2018 veröffentlichten Sammelband »Georgien, neu buchstabiert – Politik und Kultur eines Landes auf dem Weg nach Europa« herausgegeben. (Bild: faculty.iliauni.edu.ge)