Die ukrainische Armee hat sich in der Region Kursk auf russischem Staatsgebiet vorerst festgesetzt

Gegeninvasion in Kursk

Auch nach einer Woche ist es der russischen Armee nicht gelungen, den Vormarsch ukrainischer Truppen in der Region Kursk zurückzuschlagen.

Nur ein Bruchteil der Bewohner:in­nen Russlands hat bislang eigene Erfahrungen mit dem Krieg gemacht. Drohnen fliegen zwar immer wieder Ziele im russischen Hinterland an und beschädigen dort Ölraffinerien oder Luftlandeplätze. Auch kam es vor, dass dabei eine Drohne direkt in einem Wohnhaus landete, so wie Anfang August im 150 Kilometer Luftlinie von der ukrainischen Grenze entfernten Ort Orjol. Grenznahe Gebiete werden ohnehin regelmäßig beschossen. Auf der ukrainischen Seite kämpfende russische Einheiten wie das aus Rechtsextremen bestehende Russische Freiwilligenkorps haben sich bei Streifzügen auf russisches Staatsgebiet vorgewagt. Doch was sich seit Mitte vergangener Woche in der Region Kursk abspielt, hat eine ganz neue Qualität.

Am 6. August sind reguläre Verbände der ukrainischen Armee auf russisches Territorium vorgedrungen – das erste Mal seit Beginn der großangelegten russischen Invasion der Ukraine. Russische Militärblogger hatten noch in der Nacht davor geschrieben, die Lage auf dem Frontabschnitt Richtung Kursk sei angespannt, aber relativ stabil. Aus dem Verteidigungsministerium war zu hören, einzelne Sabotageeinheiten des Gegners bewegten sich vorwärts. Doch bald wurde klar, dass es sich um größere Kampfverbände handelte, die schnell vorrückten.

Nach offiziellen russischen Angaben wurden bis Samstag über 76.000 Menschen aus den grenznahen Gegenden in der Region Kursk evakuiert, am Montag sprach Aleksej Smirnow, der geschäftsführende Gouverneur von Kursk, bereits von 121.000 Zivilisten, die das Grenzgebiet verlassen hätten.

Die ukrainische Seite wahrte mehrere Tage lang Stillschweigen über ihr Vorgehen. Erst am Samstag gab der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zu, dass erstmals reguläre Kampfverbände und nicht nur einzelne Sabotage­einheiten auf russischem Boden aktiv seien. Die Ukraine stelle hiermit ihre Fähigkeit unter Beweis, »Gerechtigkeit walten zu lassen« und »Druck auf den Aggressor« auszuüben.

Mit Verweis auf Geolokalisierungsdaten von Fotos und Videos, die ukrainische Armeeangehörige veröffentlicht haben, konstatierte die britische Tageszeitung Financial Times (FT), dass sich ukrainische Truppen bereits am Wochenende rund 30 Kilometer ins russische Landesinnere vorgearbeitet hatten. Nach offiziellen russischen Angaben wurden bis Samstag über 76.000 Menschen aus den grenznahen Gegenden in der Region Kursk evakuiert, am Montag sprach Aleksej Smirnow, der geschäftsführende Gouverneur von Kursk, bereits von 121.000 Zivilisten, die das Grenzgebiet verlassen hätten.

Am Montag legten die Gouverneure der grenznahen Gebiete Belgorod, Brjansk und Kursk, in denen der Ausnahmezustand ausgerufen worden war, bei einer Sondersitzung des Nationalen Sicherheitsrats in Wladimir Putins Residenz bei Moskau dar, dass sich die Lage in den grenznahen Oblasten insgesamt verschlechtere. Der Gouverneur von Kursk sagte, 28 Ortschaften stünden unter ukrainischer Kontrolle. Der Kontakt dorthin sei abgebrochen. Selbst das kremlnahe Nachrichtenportal Readovka berichtete, dass ukrainische Einheiten im Kursker Gebiet rund zwölf Kilometer ins Landesinnere vorgerückt seien, und schilderte die Evakuierung der Bevölkerung aus dem im Belgoroder Gebiet gelegenen grenznahen Ort Krasnaja Jaruga.

Kampferprobte Einheiten nach Kursk verlegt

Wie die FT berichtete, hat die Ukraine unter anderem kampferprobte Einheiten von der Front in der Region Charkiw nach Kursk verlegt. Die ukrainischen Soldaten sagten der Tageszeitung, in festen Stellungen in der Defensive zu kämpfen, sei sehr schwierig, in Kursk hätten sie die russischen Truppen dagegen überraschen können.

Ziel der ukrainischen Operation könnte sein, die russische Armee zu zwingen, Truppen nach Kursk zu ver­legen, um die russische Offensive in der südlicher ge­legenen Region Donezk zu verlangsamen. Dort rücken russische Truppen seit Monaten langsam, aber stetig vor. Andere spekulieren, es könne darum gehen, die russische Bevölkerung zu demoralisieren oder sich durch die Übernahme russischer Gebiete für zukünftige Verhandlungen eine bessere Position zu verschaffen. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Viele Be­obachter:innen rechnen nicht damit, dass es vor der US-Präsidentschaftswahl im November zu Gesprächen kommt. Da die Ukraine in Putins Weltbild als Vasall der USA fungiert, dürfte sich der Kreml Klarheit über die außenpolitische Linie der zukünftigen US-Führung verschaffen wollen. Ob die ukrainischen Streitkräfte sich über eine so lange Zeit hinweg in den jetzt besetzten Gebieten halten können, ist fraglich.

Sowohl die deutsche als auch die US-Regierung teilten mit, dass sie nicht über die ukrainische Offensive informiert gewesen seien. Die ukrainische Regierung wiederholte unterdessen in den vergangenen Tagen mehrmals ihre Bitte um die Erlaubnis, mit von Nato-Staaten gelieferten Langstreckenwaffen Ziele auf russischem Gebiet ­anzugreifen.

Großhandelspreise für Erdgas stiegen auf einen Höchstwert

Ein mögliches kriegsstrategisches Ziel der ukrainischen Offensive könnte darin bestehen, die Kontrolle über die Gasmess- und Verdichterstation bei Sudscha zu erlangen. Von dort aus wird Erdgas aus Russland per Pipeline durch die Ukraine in Richtung EU geleitet, wo Ungarn, Österreich und die Slowakei zu den wichtigsten Abnehmern gehören.

Nach Angaben des staatlichen Erdgasunternehmens Gazprom, so teilte es die russische Nachrichtenagentur Tass mit, sei auch noch in der zweiten Hälfte der vergangenen Woche geliefert worden sein, als Sudscha nach anderen Angaben bereits von der ukrainischen Truppen besetzt war. Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) veröffentlichte mittlerweile Satellitenaufnahmen, die darauf hindeuten, dass die Messeinrichtungen teilweise zerstört sind, was vermutlich am Wochenende erfolgt ist. Die Großhandelspreise für Erdgas in der EU stiegen prompt auf einen Höchstwert für das laufende Jahr.

Auf beiden Seiten, insbesondere in den Händen der ukrainischen Armee, gibt es nunmehr wieder eine große Zahl neuer Kriegsgefangener. In Gefangenschaft sollen auch junge russische Männer geraten sein, die ihren allgemeinen Wehrdienst ableisten und im angegriffenen Grenzgebiet zur ­Ukraine eingesetzt waren. Unter anderem hatten sie die Zufahrt zu der Gasmessstation in Sudscha zu bewachen. Die russische Regierung legt aus innenpolitischen Erwägungen Wert darauf, seit 2022 keine Wehrdienstleistenden im Krieg in der Ukraine einzusetzen.

Wladimir Putin sagte am Montag, es könne keine Verhandlungen geben mit Leuten, die »wahllos friedliche Menschen und zivile Infrastruktur angreifen«.

Das russische Staatsfernsehen gibt sich derweil alle Mühe, ukrainische Soldaten als barbarische Angreifer darzustellen. So führte der halbstaatliche Sender Perwy kanal (erster Kanal) einen ukrainischen Gefangenen vor, der vor laufender Kamera erzählte, dass sein Vorgesetzter alle angehalten habe, unbewaffneten männlichen Zivilisten ins Bein zu schießen, um sie anschließend in einem Keller festzusetzen. Bewaffnete gelte es zu erschießen. Außerdem berichtete er von Plünderungen.

Putin sagte bei der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats am Montag, es könne keine Verhandlungen geben mit Leuten, die »wahllos friedliche Menschen und zivile Infrastruktur angreifen oder versuchen, Atomkraftwerke einer bedrohlichen Situation auszusetzen«. Damit nahm er Bezug auf einen Brand, der am Vorabend in einem der Kühltürme des Atomkraftwerks von Saporischschja ausgebrochen war. Russland, dessen Truppen das Kraftwerk kon­trollieren, schob der Ukraine die Schuld für den Vorfall zu; die ukrainische ­Regierung sagte, Russland nutze das Kraftwerk, um die Welt zu erpressen.

Es ist davon auszugehen, dass Russland zu einem Gegenschlag ausholen wird. Wie der aussehen könnte, zeigte die russische Armee in der Vergangenheit zur Genüge mit ihren Angriffen auf die zivile Infrastruktur, unter denen die gesamte ukrainische Bevölkerung zu leiden hat. Seit Anfang dieses Jahres gelten die russischen Angriffe wieder verstärkt der Stromversorgung und den Kraftwerken. Schon jetzt ist der Strom so knapp, dass sich der Bedarf selbst mit Zulieferungen aus dem Ausland nicht decken lässt und in zahlreichen Regionen der Strom oft länger als einen halben Tag abgeschaltet werden muss.