Ein Netzwerk aus Sozialinitiativen fordert freie Fahrt für Obdachlose im öffentlichen Nahverkehr

Arm heißt immobil

Das Netzwerk »Kostenfreier ÖPNV« fordert freie Fahrt für Obdachlose im öffentlichen Nahverkehr. Viele Menschen landen im Knast, weil sie Strafen fürs Schwarzfahren nicht bezahlen können.

In der U-Bahn kein gültiges Ticket zu haben, ist ein Delikt. Mehr als 100 Kriminologen und andere Wissenschaftler haben vergangene Woche einen offenen Brief veröffentlicht, in dem sie fordern, das endlich zu ändern. Schwarzfahren solle weder als Straftat noch als Ordnungswidrigkeit behandelt werden, schreiben sie. Adressiert ist der Brief an Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP).

Obdachlose Menschen sind oft dringend auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, können sich aber Fahrscheine meist nicht leisten. Werden sie ohne gültiges Ticket erwischt und können die fälligen Bußgelder nicht bezahlen, häufen sich schnell Schulden bei den Verkehrsbetrieben an. Irgendwann wird man zu einer Geldstrafe verurteilt, und wenn man diese nicht bezahlen kann, droht das Gefängnis. Schätzungen zufolge treten mehrere Tausend Menschen jährlich eine Haftstrafe für das Fahren ohne Fahrschein an, rund 1.400 davon sind wohnungslos.

Wohnungslose Menschen würden dafür bestraft, »dass sie Wege zum Arzt, zu Behörden oder zum Einkaufen zurücklegen«, sagt Sabrina Heinl vom Netzwerk KÖPNV.

Die Rechtsgrundlage für diese Praxis liefert der Paragraph 265a des Straf­gesetzbuchs zum »Erschleichen von Leistungen«. Diese Straftat soll mit »Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft« werden – ­explizit schließt dieses »Erschleichen« auch die »Beförderung durch ein ­Verkehrsmittel« ein. Diese Aufwertung des Schwarzfahrens von einer Ordnungswidrigkeit zur Straftat war 1935 durch das NS-Regime vorgenommen worden.

Meistens erhält man nach wiederholtem Schwarzfahren eine Geldstrafe. Wenn man diese nicht bezahlen kann, muss man eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe antreten. Oft trifft das Menschen, die so wenig Geld haben, dass sie sich schon die Fahrkarten nicht leisten konnten. Wenn die zur Ersatzfreiheitsstrafe Verurteilten zu diesem Zeitpunkt noch eine Wohnung hatten, kann der Gefängnisaufenthalt mitunter dazu führen, dass sie diese verlieren; das Sozialamt kann zwar die Miete während einer Gefängnisstrafe übernehmen, ob es das tut, liegt aber in Ermessen der Behörde.

Das alles kostet die öffentlichen Kassen viel Geld, denn Menschen im Gefängnis einzusperren, ist teuer, Unterkünfte für Wohnungslose sind es auch. Diesem Zustand ein Ende zu setzen, hat sich das Netzwerk »Kostenfreier ÖPNV« (­KÖPNV) zum Ziel gesetzt. Wohnungslose Menschen würden dafür bestraft, »dass sie Wege zum Arzt, zu Behörden oder zum Einkaufen zurücklegen, was für alle Bürger:innen un­um­gänglich ist«, sagt Sabrina Heinl. Sie ist Erste Vorsitzende im bayerischen Landesverband des Deutschen Berufsverbands für Soziale Arbeit e. V. (DBSH), der sich dem KÖPNV-Netzwerk angeschlossen hat. Eine Möglichkeit, »die Teilhabe von wohnungslosen Menschen zu erhöhen, wäre also, den Paragraph 265a abzuschaffen«, so Heinl.

Neun-Euro-Ticket war ideal

Das Netzwerks will, dass obdachlosen Menschen kostenfrei oder kostengünstig den ÖPNV nutzen können. Das Neun-Euro-Ticket sei in der Hinsicht geradezu ideal gewesen; mit diesem Angebot erhielt man im Sommer 2022 eine Zeitlang ein deutschlandweites Monatsticket. »Die neun Euro konnte jeder irgendwie aufbringen, für das ­Ticket brauchte man kein Konto und es lag in Papierform vor«, sagt Heinl.

All diese Hürden waren recht schnell wieder aufgebaut: Das Neun-Euro-Ticket wurde nach drei Monaten des Verkaufs flugs wieder abgeschafft und durch das Deutschland-Ticket ersetzt, das 49 Euro im Monat kostet. Dieses gibt es primär in App-Form, nur an wenigen Verkaufsstellen kann man es sich als Chipkarte besorgen. Auch dann muss man ein Bankkonto für das Lastschriftverfahren angeben. Da viele obdachlose Menschen weder Handy noch Konto besitzen, ist das 49-Euro-Ticket geradezu unerreichbar – ganz ­abgesehen vom hohen Preis.

Die Idee für das Netzwerk hatte der Streetworker Ben Peter schon Ende 2023. Vor der Konferenz »Fragile Behausungen« an der Technischen Hochschule Nürnberg sprach er den Organisator, den dortigen Professor Frank Sowa, auf das Thema Obdachlosigkeit und öffentlicher Nahverkehr an. Sowa war sofort interessiert und bat Peter, einen Workshop vorzubereiten. Auf der Tagung im Februar 2024 gründete sich dann das Netzwerk, das die Barrieren, die obdachlose Menschen an der legalen Nutzung des ÖPNV hindern, abbauen will.

Bundesweiter Flickenteppich

Einige städtische Verkehrsbetriebe haben in der Vergangenheit zwar schon darauf verzichtet, Schwarzfahrer der Strafverfolgung auszusetzen, in der Praxis ergäben sich aber mitunter skurrile Situationen, so Heinl. Ihr seien Fälle bekannt, bei denen die betreffende Kommune zwar die Strafverfolgung politisch schon abgeschafft habe, die Verkehrsverbünde, in denen verschiedene Städte zusammengeschlossen sind, aber dennoch weiterhin strafrechtlich gegen das Fahren ohne Fahrschein vorgingen. In der Hinsicht gibt es bundesweit einen Flickenteppich: Städte wie Düsseldorf, Köln und Münster haben die Strafverfolgung gestrichen, ihre Nachbarkommunen aber oft nicht.

Zunächst forderte das Netzwerk eindeutig einen »kostenfreien« ÖPNV. Nach Rückmeldungen von obdachlosen Menschen, dass sie vor zwei Jahren mit den neun Euro für das bundesweit geltende Ticket gut zurechtkamen, passte das Netzwerk die Forderung entsprechend an.

Es soll keinen »Extrafahrschein« für Wohnungslose geben, der zusätzlich diskriminiert.

Es soll auch keinen »Extrafahrschein« für Wohnungslose geben, der zusätzlich diskriminiert. Die Idee, solche kommunal gültigen Ausweise auszugeben, kam auch bei Lokalpolitikern nicht gut an. Sie befürchteten eine »Neidpolitik«, wenn die alleinerziehende Mutter oder die Familie mit geringem Einkommen anders als Wohnungslose zahlen müssten, erzählt Heinl.

Das Netzwerk stehe in regem Austausch mit Wohnungslosen und politisch Verantwortlichen. Die Bereitschaft, etwas zu ändern, sei vielerorts da, so Heinl – die Umsetzung scheitere aber an den üblichen Fragen: Wer zahlt? Wer prüft die Anspruchsberechtigung? Sind nur obdachlose oder auch wohnungslose Menschen berechtigt? All diese Fragen stellen sich freilich nicht, wenn einfach alle wieder ein Deutschland-Ticket für neun Euro ­kaufen könnten.