Leo Ihßen, ­Freiheitsfonds, im Gespräch über die Menschen, die fürs Schwarz­fahren ins Gefängnis wandern

»Ein Armutszeugnis für die BRD«

Wer ohne gültigen Fahrschein erwischt wird, muss ein Bußgeld bezahlen, und wer auch das nicht bezahlen kann, dem droht eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe. Jedes Jahr landen deshalb Tausende Menschen im Knast. Die Initiative Freiheitsfonds sammelt Spenden, um für diese Menschen die Strafe zu bezahlen und sie dadurch aus der Haft zu befreien. Mit den knapp 932.000 Euro, die seit der Gründung der Initiative im Dezember 2021 zusammengekommen sind, konnten bis zum 6. August 1.000 Häftlinge freigekauft werden. Anlässlich dieses Jubiläums sprach die »Jungle World«mit Leo Ihßen vom Freiheitsfonds.

Ihrer Organisation zufolge sind Menschen, die wegen Schwarzfahren im Knast landen, überwiegend arbeitslos (87 Prozent), oft auch ohne festen Wohnsitz (15 Prozent) oder suizidgefährdet (15 Prozent). Wer war die 1.000. Person, die Sie freigekauft ­haben?
Sie sollte noch für weitere zwei Monate im Gelsenkirchener Gefängnis einsitzen – und sie ist im siebten Monat schwanger. Sie ist Mitte 30 und hat uns geschrieben, dass sie durch die Zeit in Haft sehr verzweifelt ist. Die Zeit im Gefängnis bedeutet für alle Betroffenen eine absolute Ausnahmesituation. Was es bedeuten muss, schwanger einzu­sitzen, kann ich mir nicht vorstellen. Neben ihr konnten am Dienstag vergangener Woche weitere 60 Personen durch uns das Gefängnis verlassen.

Haben Sie bei Ihrer Gründung mit so einem Erfolg gerechnet?
Wir sind in dieser Frage zerrissen. Denn natürlich ist die Solidarität aller Unterstützer:innen der Aktion beeindruckend und toll – doch was für uns ein Erfolg ist, ist ein Armutszeugnis für die BRD. Es kann nicht sein, dass eine spendenfinanzierte Initiative Menschen aus dem Gefängnis freikaufen muss, denen das Geld für eine Fahrkarte im Wert von 2,90 Euro fehlte. Viel glücklicher als über die 1.000. ­Befreiung wären wir über eine politische Lösung des Problems. Die muss endlich kommen!

Wir schauen mit Sorge auf die Kürzungen von Sozialausgaben, die Verschärfung von Sanktionen im Bürgergeld und die Auswirkungen der Inflation. All das sind zentrale Armutstreiber.

Wie könnte die denn aussehen?
Soziale Probleme lassen sich nicht strafrechtlich lösen. Ein Blick auf die Zahlen zeigt: Wer wegen Fahren ohne Ticket im Gefängnis sitzt, ist von großer Armut betroffen. Die Menschen hätten mit Sicherheit auch gerne immer genug Geld für ihre Tickets und was es sonst noch so zum Leben braucht. Das haben sie aber nicht – trotzdem müssen sie irgendwie zum Amt, zur Ärztin oder zu Angehörigen kommen. Wenn sie dafür eingesperrt werden, ist damit niemandem geholfen.

Was müsste sich sozialpolitisch verbessern?
Jährlich werden 120 Millionen Euro Steuergelder für die Strafverfolgung von armen Menschen eingesetzt, die zu wenig Geld für ein paar Tickets hatten. Wir glauben, dass sich diese Summe anders besser investieren ließe. Wie wäre es zum Beispiel mit einem kostenlosen ÖPNV? Was es bedeutet, wenn alle mobil sein können, haben wir im Jahr 2022 erlebt. In dieser Zeit konnten aufgrund des Neun-Euro-Tickets auch Menschen mit wenig Geld angstfrei unterwegs sein.

Wie schätzen Sie die Aussichten für Verbesserungen ein? Selbst das für viele Menschen bereits unerschwingliche 49-Euro-­Ticket wird sich bereits im kommenden Jahr aller Voraussicht nach verteuern.
Wir schauen mit Sorge auf die Kürzungen von Sozialausgaben, die Verschärfung von Sanktionen im Bürgergeld und die Auswirkungen der Inflation. All das sind zentrale Armutstreiber. Gleichzeitig ist abzusehen, dass die kommenden Wahlkämpfe gerade durch diese Themen bestimmt werden – und das nicht im Guten.