Die Miniserie »Lady in the Lake« ist trotz einiger Entgleisungen absolut sehenswert

Die Geister von Baltimore

Die Miniserie »Lady in the Lake« mit Natalie Portman und Moses Ingram in den Hauptrollen blickt in die Abgründe der Hafenstadt an der US-Ostküste Mitte der sechziger Jahre.

Nichts in dieser Serie ist so, wie es scheint, jeder Raum hat einen doppelten Boden. Drei Figuren, die nur Ort und Zeit miteinander teilen, folgt die Kamera an Thanksgiving 1966 durch ein von der traditio­nellen Parade durchwogtes Baltimore. Da ist das Mädchen, das von Seepferdchen träumt, als ein fetter Santa Claus an ihm vorbeizieht. Da ist die elegante jüdische Hausfrau, die Kalbfleisch kauft, sich dabei mit Blut ­bekleckert und schnell ein sauberes Kleid braucht. Und da ist die schwarze Alleinerziehende, die als Schaufenstermodell in einem Kaufhaus posiert, bevor sie zur Bürgerrechtsversammlung hastet.

Cleo Sherwood (Moses Ingram) wird an diesem Abend eine wichtige Rede vor der Vereinigung schwarzer Frauen halten, Madeline »Maddie« Morgenstern Schwartz (Natalie Portman) ein neues Leben beginnen, das Kind schließlich wird im Festgewühl verschwinden und als vermisst gemeldet. Sobald die Kamera auf dem Festumzug das blasse Mädchen in dem groben Mantel zwischen seinen an der Kleidung als Juden erkennbaren Eltern erspäht, ist sein Schicksal besiegelt, das Trauma angesprochen, an das das Verbrechen rühren wird.

»Lady in the Lake« basiert auf dem gleichnamigen Bestseller von Laura Lippman, der zwei authentische, voneinander unabhängige Kriminalfälle in Baltimore 1969 zum Ausgangspunkt nimmt, um in die Abgründe der Stadt und der Menschen zu schauen.

Jedes prägende Bild dieser labyrinthischen Serienerzählung zitiert andere Bilder, ruft Namen, Ereignisse, Mythologien auf, spiegelt mal subtil, mal aufdringlich literarische Fiktionen oder Realgeschichte und taucht im Fortgang der Handlung in neuen Versionen wieder auf. Das ist gut gemacht, mündet aber zusehends auch in operettenhaft überdrehte Spektakel und krassen Kitsch.

»Lady in the Lake« basiert auf dem gleichnamigen Bestseller von Laura Lippman, der zwei authentische, voneinander unabhängige Kriminalfälle in Baltimore 1969 zum Ausgangspunkt nimmt, um in die Abgründe der Stadt und der Menschen zu schauen: der Mord an dem elfjährigen jüdischen Mädchen Esther Lebowitz (der schnell aufgeklärt wurde) und der bis heute ungeklärte Tod der 33jährigen Afroamerikanerin Shirley Parker, die sich und ihre Söhne im fliegenden Wechsel als Modell, Bardame und Sekretärin der National Urban League durchbrachte. Ihre verweste Leiche wurde von Arbeitern bei Reparaturarbeiten im Schacht des Springbrunnens des städtischen Parks gefunden.

Beide Fälle, aber mehr noch der Umgang mit ihnen sind Zeugnisse der Geschichte der Ostküstenstadt, die mit der Kultserie »The Wire« zum Synonym für Drogenkriminalität, Korruption und extreme Armut geworden ist. Mit dem Schrecken des Mädchenmords war Lippman praktisch aufgewachsen. Von der Toten im Brunnen hörte sie erst 20 Jahre später, als ein Reporter jener den Spitznamen »Lady in the Lake« verpasste, in Anspielung wohl auf den klassischen Kriminalroman Raymond Chandlers.

»Missing White Woman«-Syndrom

Ihr Tod wurde als traurige Kuriosität behandelt. So erzählt es Lippmann, die selbst als Journalistin gearbeitet hatte, bevor sie ins Schriftstellerfach wechselte, heute in Interviews. Anteilnahme am Tod eines weißen jüdischen Mädchens, Gleichgültigkeit gegenüber dem einer schwarzen Frau – es ist ein Missverhältnis, das exemplarisch für das »Missing White Woman«-Syndrom, der exklusiven medialen Aufmerksamkeit für hellhäutige weibliche Gewalt­opfer, zu sein scheint. Dem Roman dient diese Konstellation aber nicht der vordergründig moralischen Polarisierung, sondern für eine ganz ­eigene Geschichte.

Für Apple TV hat die israelisch-amerikanische Regisseurin Alma Har’el die Serienadaption der zwischen Traum, Realität, Vergangenheit und Gegenwart der sechziger Jahre changierenden Story übernommen. Der Vorlage entsprechend verbindet Har’els Bearbeitung Elemente des Neo-Noir, psychoanalytische Intro­spektion und Kulturkritik zu einer verwinkelten Parallelerzählung über zwei Frauen, die sich gegen die ­Konventionen ihrer Zeit und Milieus stemmen. Die Geschichte wird aus dem Off von der Geisterstimme der scheinbar allwissenden Cleo erzählt, ein nicht zuletzt durch die Serie »Desperate Housewives« popularisierter Kniff des Mystery-Genres.

Cleo ist eine coole Person, die vor allem deshalb ständig in Schwierigkeiten steckt, weil sie von ihrem Stiefvater, den geschiedenen Ehemännern und ihrem brutalen Boss, dem Kopf eines illegalen Glücksspielrings, immer tiefer in kriminelle Geschäfte hineingezogen wird. Ihre eigentliche Leidenschaft gilt dem Jazzgesang, dem Jungle und der Agenda der progressiven schwarzen Community.

Gegenpart aus einem jüdisch-säkularen Oberschicht­shaushalt

Cleo hat zwar das Zeug dazu, eine größere Rolle in der Kampagne einer schwarzen Politikerin zu übernehmen, kann sich aber nicht aus der mörderischen Abhängigkeit vom Syndikat befreien. Die Serie adressiert mit diesem Handlungsstrang das Engagement afroamerikanischer Frauen in der Bürgerrechtsbewegung in den sechziger Jahren. Sie zeigt auch, wie sich Aktivistinnen für politische Ämter entscheiden, um Änderungen aus dem System heraus bewirken zu können.

Cleos Gegenpart ist die aus einem jüdisch-säkularen Oberschichts­haushalt kommende Madeline. In einer mit viel Spaß an der ironischen Übertreibung inszenierten Schlüsselszene zu Beginn der ersten Episode kreuzen sich die Wege der Frauen für einen flüchtigen Moment. Cleo wird das Vorführkleid von aufgedrehten Verkäuferinnen regelrecht vom Körper gerissen, als die offensichtlich aus gutem Hause stammende Madeline ins Kaufhaus stürmt und mit sich überschlagender Stimme verlangt, es auf der Stelle gegen ihr blutverschmiertes Kostüm zu tauschen. Es ist nicht die einzige Aneignung, die Madeline zu Lasten Cleos vornimmt.

Jugendträume von der Journalistenkarriere

Kultur ist Appropriation, ihre verschärfte Form stellt der Journalismus dar. Und nicht zuletzt um den geht es in der Serie, die sich auf ­kluge Weise mit kultureller Aneignung auseinandersetzt und diese verteidigt. Die Figur der Madeline hat zahlreiche Einflüsse und Vorbilder, die neben Anaïs Nin wichtigste Referenz ist Marjorie Morningstar, Titelheldin in Herman Wouks Bestseller aus dem Jahr 1955, der wegen seiner Betonung jüdischer Werte für Diskussionen sorgte.

In die Geschichte Madelines ist die Biographie der in jungen Jahren nach Ruhm strebenden, dann zur traditionell religiösen Vorstadtmutter gewordenen Figur der Marjorie Morningstar spiegelverkehrt eingeschrieben. Madeline macht es anders. 20 Jahre lang war sie die ergebene Ehe- und Vorzeigehausfrau, bis sie Gatten und Teenagersohn den Kalbsbraten vor die Füße kippt, vom behaglichen Oberschichtseigenheim in eine Bruch­bude in einem verrufenen Viertel zieht, um ihre Jugendträume von der Journalistenkarriere zu ver­wirklichen.

Kultur ist Appropriation, ihre verschärfte Form stellt der Journalismus dar. Und nicht zuletzt um den geht es in der Miniserie, die sich auf kluge Weise mit kultureller Aneignung auseinandersetzt und diese verteidigt.

Als Madeline bei einer Suchaktion der jüdischen Gemeinde in der ­eiskalten Novembernacht die Leiche des vermissten Mädchens findet, verfügt sie über exklusives Wissen vom Tatort. Damit hat sie den Stoff, um an den Türen einer großen ­Boulevardzeitung äußerst energisch anzuklopfen. Madeline beginnt, sich als Zeitungsfrau neu zu erfinden, und entpuppt sich bald als unerschrockener Libertin.

Ihre zweite Geschichte wird das Verschwinden von Cleo Sherwood. Die Affäre mit einem in dem Fall ermittelnden ­Beamten scheint ihrem Fortkommen nützlich, gefährdet allerdings die Karriere des schwarzen Polizisten, dem sexuelle Kontakte zu einer weißen Frau quasi verboten sind, da ­sogenannte Mischehen im Bundesstaat Maryland noch bis 1967 gegen das Gesetz verstießen.

»Lady in the Lake« ist ein geschickt konstruierter Noir-Thriller, der das schwindelerregende Niveau der ersten Episoden allerdings nicht bis zum Ende durchhalten kann und bisweilen in der Inszenierung der traumatischen Erfahrung des Antisemitismus vollständig entgleist. ­Sehenswert ist die Serie nicht zuletzt deshalb, weil sich mit Natalie Portman und Moses Ingram zwei Schauspielerinnen gegenüberstehen, die einander absolut ebenbürtig sind.

»Lady in the Lake« kann auf Apple TV ­gestreamt werden.