Yorgos Lanthimos findet Bilder für die existenzielle Verunsicherung der Gegenwart

Überdosis süße Träume

Auf die gefeierte Steampunk-Befreiungsutopie »Poor Things« lässt der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos den eher kryptischen Anthologiefilm »Kinds of Kindness« folgen, der an die Formensprache der Greek Weird Wave anknüpft.

Robert (Jesse Plemons) fährt einen SUV und hält sich in den klimatisierten durchgestylten Räumen der US-amerikanischen Oberschicht auf. Mit seiner Frau Sarah (Hong Chau) bewohnt er ein geräumiges freistehendes Haus in einer durchgrünten Vorstadt. Der Ton in diesem Milieu ist floskelhaft höflich, jede Bewegung eigentümlich bedächtig. Der alles umgebende Luxus isoliert diese Welt von der Realität und lässt sie wie im Setting eines David-Lynch-Films auf gespenstische Art gesichtslos erscheinen.

Roberts Chef Raymond (Willem Dafoe) scheint dem Paar zugetan und schickt ausgefallene Geschenke wie einen Tennisschläger, den John McEnroe während einem seiner berühmten Tobsuchtsanfälle zerschmettert hat. Doch der ganze extravagante Lebensstil hängt daran, dass der vollständig von Raymond abhängige Robert genau das macht, was dieser sagt. Jeden Tag erhält er von ihm eine Auflistung all der Dinge, die er den Tag über zu tun hat – sogar das Liebesleben und die Speisenfolge sind minutiös durchgeplant.

Ein Geschenk vom Chef. Robert (Jesse Plemons) mit dem zerbeulten Tennisschläger von John McEnroe

Ein Geschenk vom Chef. Robert (Jesse Plemons) mit dem zerbeulten Tennisschläger von John McEnroe 

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Wirklich bewusst wird ihm die Asymmetrie des Verhältnisses erst, als er sich eines Tages weigert, einen von Raymonds Aufträgen auszuführen. Dabei geht es darum, dass er zu einer festgelegten Zeit an einer vorgegebenen Kreuzung ein bestimmtes Auto rammen sollte. Das hat er zwar bereits getan, allerdings nicht zur vollen Zufriedenheit seines Chefs. Der fordert ihn daher auf, den Vorgang noch einmal entschiedener zu wiederholen. Da Robert jedoch Skrupel hat, den anderen Fahrer zu töten, verweigert er sich Raymonds Wunsch. Daraufhin entzieht dieser ihm seine Gunst.

Lanthimos kehrt mit seinem neuen Episodenfilm zu den surreal-psychologischen Experimentieranordnungen zurück, die für die von ihm in den zehner Jahren mitbegründeten »Greek Weird Wave« kennzeichnend sind.

Von nun an ist Robert auf sich selbst gestellt. Statt die Gelegenheit zu nutzen, die Kontrolle über sein Leben zurückzugewinnen, leidet er unter dem Liebesentzug und ist komplett davon überfordert, eigene Entscheidungen zu treffen. Das beginnt mit der Frage, ob er in der Bar Rot- oder Weißwein bestellen soll, und hört beim angemessenen Verhalten Sarah gegenüber noch lange nicht auf. Ohne Raymonds Anleitung wird Robert mit dem Leben nicht fertig. Also beschließt er, alles zu tun, um die Zuwendung des Übervaters zurückzugewinnen.

»Kinds of Kindness«, der neue Film von Yorgos Lanthimos, feierte im Mai im Wettbewerb von Cannes seine Premiere – nur ein halbes Jahr nachdem der Regisseur den weitgehend identisch besetzten Film »Poor Things« (2023) bei den Filmfestspielen von Venedig vorgestellt und den Hauptpreis gewonnen hatte. Nach den mit Leichtigkeit und eher geradlinig erzählten Filmen »The Favourite – Intrigen und Irrsinn« (2018) und »Poor Things«, für die Tony McNamara das Drehbuch verfasst hat (im ersteren Fall zusammen mit Deborah Davis), kehrt Lanthimos mit seinem neuen Episodenfilm zu den surreal-psychologischen Experimentieranordnungen zurück, die für die von ihm in den zehner Jahren mitbegründeten »Greek Weird Wave« kennzeichnend sind.

Sperrige cineastische Kost

Dafür bürgt auch die abermalige Zusammenarbeit mit dem für absurde Plots bekannten Drehbuchautor Efthymis ­Filippou, der bereits an »Dogtooth« (2009), »Alpen« (2011), »The Lobster« (2015) und »The Killing of a Sacred Deer« (2017) beteiligt war. Erst während der gemeinsamen Arbeit am Drehbuch von »Kinds of Kindness« habe die Filmerzählung die Form des Triptychons angenommen, nicht zuletzt weil der Anthologiefilm »komplexer und ansprechender« sei als die einzelne Erzählung, so begründet es Lanthimos im Interview im Presseheft.

Zum dritten Mal in einem Film von Yorgos Lanthimos: Emma Stone

Zum dritten Mal in einem Film von Yorgos Lanthimos: Emma Stone

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Der Bruch mit den Konventionen deutet sich schon im Vorspann an. Wenn das Emblem der Produktionsfirma auftaucht, ertönt anstelle der dazugehörigen Fanfare der Ohrwurm »Sweet Dreams (Are Made of This)« des britischen Synthpop-Duos Euryth­mics aus dem Jahr 1983. Der Hit, der davon handelt, woraus süße Träume gemacht sind und wie sie die Träumenden benutzen, bildet die Ouvertüre für die drei Erzählungen. Was folgt, ist wieder deutlich sperrigere cineastische Kost, als sie die streckenweise zwar deftige, aber immer mitreißend erzählte sexpositive Steampunk-Befreiungsutopie »Poor Things« geboten hat.

Auf den ersten Teil über Raymond folgen zwei weitere auf den ersten Blick davon unabhängige Episoden. Zusammengehalten werden alle drei durch eine gemeinsame Grundstimmung, ein Setting verwandter Themen sowie eine ominöse Figur namens R. M. F. (Yorgos Stefanakos). Dieser hat keinen Text, fungiert aber für alle drei Teile als Titelgeber. Nichts von alldem trägt dazu bei, den Film insgesamt konsumierbarer zu machen. Doch genau das scheint es zu sein, worauf Lanthimos aus ist: mehr Experiment, mehr Zumutung für die Zuschauer.

Mehr Zumutung für die Zuschauer

Auf die erste knappe Stunde unter dem Titel »The Death of R. M.F.« folgen die Episoden »R. M. F. is Flying« und »R. M. F. Eats a Sandwich«. Im zweiten Teil trauert der Polizist Daniel (wieder gespielt von Plemons) um seine verschollene Ehefrau Liz, eine Meeresforscherin (verkörpert von Emma Stone, die in der ersten Episode erst spät und nur in einer Nebenrolle auftaucht). Als Liz plötzlich wieder zu ihm nach Hause zurückkehrt, erkennt er sie nicht wieder, was zum Anlass für skurrile Forderungen, Echtheitsbeweise und Psychodramen wird.

Das abschließende Kapitel »R. M. F. Eats a Sandwich« gehört dann ganz Emma Stone in der Rolle der esoterischen Emily, die für eine Sekte Mann und Kind verlassen hat und nun mit ihrem Kollegen Andrew (Plemons) auf der Suche nach einer Heilsbringerin ist – alles im Dienste des väterlichen Gurus Omi (Dafoe) und seiner Frau Aka (Chau). Wieder geht es um Fragen des Übergangs von Vertrauen und Geborgenheit zu Macht, Missbrauch und Abhängigkeit.

In allen drei Episoden beeindruckt das grandiose Spiel der Darsteller, die sich in ihren wechselnden Rollen nicht nur äußerlich, sondern vor allem durch das Energielevel unterscheiden.

In allen drei Episoden beeindruckt das grandiose Spiel der Darsteller, die sich in ihren wechselnden Rollen nicht nur äußerlich, sondern vor ­allem durch das Energielevel unterscheiden. Obwohl die Themen, um die die Handlungen kreisen, verwandt sind und einander zu spiegeln scheinen, sorgen sich stetig steigernde – häufig extreme und bisweilen extrem unappetitliche – Einfälle dafür, dass der Gang der Dinge kaum vorhersehbar ist. Die stringente Ästhetik wird von den reduziert dissonanten Klaviermotiven und dichten Chorarrangements getragen, für die Jerskin Fendrix verantwortlich zeichnet, der auch die Musik für »Poor Things« geschrieben hat.

Hong Chao, die mal als Sarah, mal als Sharon und mal als Aka auftaucht

Hong Chao, die mal als Sarah, mal als Sharon und mal als Aka auftaucht

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Die charakteristischerweise leicht verzerrten anamorphotischen Breitformatbilder von Kameramann Robbie Ryan erzeugen einen filmischen Raum, der einerseits in seiner baulichen Normalität vertraut erscheint, andererseits in seiner Austauschbarkeit eine Atmosphäre andeutet, die wie die schablonenhafte Sprache beständig lauernde Untiefen erwarten lässt. Über die Örtlichkeit sagt Lanthimos, es solle der Eindruck entstehen, der Film spiele irgendwo in Amerika.

»Kinds of Kindness« ist ausufernd, aber nicht langweilig

Auch wenn der Film mit seinen drei über 164 Minuten auserzählten Episoden insgesamt zu ausufernd geraten ist, langweilt er an keiner Stelle. Immer ist er auf der Suche nach dem, wie es Stones Charakter Emily einmal formuliert, »Moment der Wahrheit«. Der wird zwar nie erreicht, aber die stete Verheißung genügt, um die Aufmerksamkeit zu fesseln.

Dabei wirft »Kinds of Kindness« zuletzt mehr Fragen auf, als er beantworten kann. Vielleicht überhebt sich der vom Ruhm beflügelte Regisseur mit seinem neuen Film ein wenig und schließt an der einen oder anderen Stelle zu leichtfertig allzu bekannte Stereotype surrealer Psychologieausdeutungen mit systemischen Machtverhältnissen kurz. In jedem Fall aber gelingt es ihm wie derzeit kaum einem anderen auteur, existentielle Verunsicherungen in eine (alp)traumhafte filmische Logik zu integrieren und damit – bei allen Zumutungen – zu unterhalten.

Kinds of Kindness (USA/GB 2024). Drehbuch: Efthymis Filippou und Yorgos Lanthimos. Regie: Yorgos Lanthimos. Darsteller: Emma Stone, Jesse Plemons, Willem Dafoe, ­Hong Chao, Margaret Qualley. Filmstart: 4. Juli