Für die US-Demokraten dürfte es zu spät sein, Joe Biden als Präsidentschaftskandidaten zu ersetzen

Eine schlechte Nacht

Die US-Demokraten haben sich für Joe Biden als Präsi­dent­schaftskandidaten entschieden, um sich als Partei der Mitte zu präsentieren. Nun dürfte es zu spät für einen Kandi­daten­wechsel sein.

Yes, he can. Am Freitag voriger Woche zeigte Joe Biden bei einer Wahlkampfveranstaltung in North Carolina, dass er noch energisch und kämpferisch auftreten kann: »Wenn du niedergeschlagen wirst, stehst du wieder auf.« Unterdessen war sein Wahlkampfteam damit beschäftigt, Kongressabgeordnete und Spender:innen davon zu überzeugen, dass der desaströse Auftritt Bidens bei der Fernsehdebatte mit seinem republikanischen Kontrahenten Donald Trump am Abend zuvor kein Grund sei, im letzten Moment jemand anderen ins Rennen zu schicken.

Wer die Debatte verfolgt hat, konnte sehen, dass Biden sich nach seinen Aussetzern immer wieder fing und rational argumentierte. Im Gegensatz zu Trump, dessen Anhänger:innen es aber nicht stört, dass ihr Kandidat immer wieder unbequemen Fragen auswich und es mit den Tatsachen nicht so genau nahm – CNN zählte 30 Falschangaben. Biden, der sich an jene Wähler:innen wendet, für die Fakten noch etwas zählen, muss anderen Ansprüchen genügen. Und wenngleich Trumps Munterkeit wenig über seinen Gesundheitszustand aussagt und auch jüngeren Menschen bei dessen Lügen schon mal die Kinnlade herunterfallen kann, erweckte Biden den Eindruck, Stresssituationen nicht mehr gewachsen zu sein.

Das Risiko ist noch einmal gewachsen, dass die Demo­krat:innen bei der Wahl am 5. November einen sehr schlechten Tag haben werden.

Es kann »jeder mal eine schlechte Nacht haben«, wie der Senator Chris Coons zur Verteidigung Bidens bemerkte. Und sollte Biden als wiedergewählter Präsident ausgerechnet dann mal wieder eine schlechte Nacht haben, wenn etwa China Taiwan angreift, steht mit Kamala Harris eine qualifizierte Vizepräsidentin bereit. Trump hat noch keinen Vizepräsidentschaftskandidaten benannt, doch kann man schon jetzt sicher sein, dass es jemand sein wird, dessen Finger man nicht gern am Atomkoffer nesteln sehen würde.

Dennoch ist das Risiko noch einmal gewachsen, dass die Demo­krat:innen bei der Wahl am 5. November einen sehr schlechten Tag haben werden. Für einen Neustart dürfte es aber zu spät sein. Zwar mehrten sich die Forderungen, Biden möge seine Kandidatur zurückziehen, doch kamen sie vornehmlich aus den Medien und von den hinteren Rängen der Demokrat:innen, während das Establishment der Partei zu Biden hält. Er hat die Vorwahlen gewonnen und müsste freiwillig seinen Platz räumen. Und damit begännen die Probleme erst.

Nachfolgefrage ließe sich nicht konfliktfrei lösen

Bis zur offiziellen Nominierung bei der am 19. August beginnenden Democratic National Convention müsste eine einvernehmliche Lösung über die Nachfolge gefunden werden, denn sich dort zerstritten zu präsentieren, wäre noch riskanter, als mit Biden stur Kurs zu halten. Soll Harris aufrücken oder die Nummer zwei dann mutmaßlich hinter einem weißen Mann wie Gavin Newsom, dem Gouverneur von Kalifornien, bleiben? Eine Frau indisch-afroamerikanischer Abstammung, als ehemalige Staatsanwältin zudem, wie sie bei Kongressanhörungen zeigte, unerschrocken im Umgang mit ­toxischer Männlichkeit?

Kamala Harris schien 2020 als Kandidatin zu gewagt, man entschied sich deshalb für Biden, den »Mann der Mitte«. Der Präsident hätte sie als Nachfolgerin aufbauen können, betraut sie aber erst seit etwa einem Jahr mit wichtigeren und in der Öffentlichkeit wahrnehmbaren Aufgaben. Sie im Fall seines Rückzugs zu übergehen, würde zu Protesten großer Teile der Parteibasis führen, im Establishment aber hat sie keinen hinreichenden Rückhalt. Vor allem weil sich die Nachfolgefrage nicht konfliktfrei lösen lässt, dürften sich auch die schärfsten Kritiker:innen Bidens in der Demokratischen Partei mit seiner Kandidatur abfinden.

Bidens starrsinniges Festhalten an einer zweiten Amtszeit ist nur das Symptom eines tieferliegenden Problems der Demokratischen Partei. Man will auf keinen Fall radikal wirken und bemüht sich um eine »Mitte«, die kaum noch existiert, seit Trump die Republikanische Partei kontrolliert.

Die Demokratische Partei ist nicht links, sie repräsentiert sehr verschieden Lager – von linker Sozialdemokratie bis zum Liberalkonservatismus. Man muss ihr zugute halten, dass sie sehr deutlich vor dem drohenden Ende der Demokratie in einer zweiten Amtszeit Trumps warnt und weniger Bereitschaft als viele europäische Parteien zeigt, ihre Ziele aufzugeben, um für Rechte wählbar zu werden.

Wahl zwischen »Sleepy Joe« und »Creepy Donald«

Doch ganz ist der Trend, den Rechten entgegenzukommen, auch an Biden nicht vorbeigegangen, der etwa eine repressive Politik der Grenzabschottung betreibt. Zudem scheut man sich, fortschrittliche Regierungsprogramme wie die mit sozialen Verbesserungen verbundene Klimapolitik auch als solche zu bewerben und dem Weltbild der extremen Rechten einen eigenen Politik- und Gesellschaftsentwurf entgegenzustellen.

Vielmehr kann Bidens Antwort auf Trumps »Make America Great Again« so zusammengefasst werden: Nicht nötig, Amerika ist bereits groß – eine im Kern konservative Aussage, die sich trotz der relativ guten Wirtschaftslage in der Lebensrealität vieler US-Amerikaner:innen nicht widerspiegelt.

In einer so heterogenen Partei, in der nun auch ein identitätspolitischer Flügel am Werk ist – in der Israel-Politik zeigt sich, dass das Establishment auch nützlich sein kann –, bedürfte es unter den Bedingungen der personenorientierten Politik in den USA einer Integrationsfigur, die möglichst viele Widersprüche geschickt unter den Teppich kehren und einen Gegenentwurf zum Trumpismus vermitteln kann, der nicht nur defensiv ist. Biden ist dazu nicht in der Lage.

Das könnte dazu beitragen, dass viele US-Ame­rika­ner:in­nen sich der Wahl zwischen »Sleepy Joe« und »Creepy Donald« verweigern und am 5. November nicht wählen oder für Kandidat:innen von Drittparteien stimmen. Da es wahrscheinlich auf einige Zehntausend Stimmen in wichtigen swing states ankommen wird, könnte das wahlentscheidend sein.