Nazis, Esoteriker und germanische Götter
Von Odin bis Atlantis
»Als ich zum ersten Mal von der Geschichte der Böttcherstraße hörte, fielen mir die Augen aus dem Kopf«, erzählt Joachim Bellgart. Seit über zehn Jahren bietet der Stadtführer Touren zu Bremer Sehenswürdigkeiten an. Wenn er durch die Böttcherstraße führe, versuche er, die Rundgänge im »Haus Atlantis« enden zu lassen. Das architektonisch bedeutendste, im expressionistischen Stil gehaltene und für Roselius symbolträchtigste Haus des Straßenzugs gehört inzwischen der Hotelkette Radisson Blu. Gegen eine an das Hotel zu entrichtende Gebühr können sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Touren das Herzstück des Gebäudes ansehen. Nach einem Aufstieg durch ein spindelförmiges Treppenhaus gelangen sie in den blau schimmernden »Himmelssaal«.
Das Muster des parabolförmigen Glasdachs ist dem Weltenbaum Yggdrasil aus der germanischen Mythologie nachempfunden. »Die hinter dem ›Himmelssaal‹ stehende ideologische Vorstellung ist ziemlich verrückt«, sagt Bellgart. Die gesamte menschliche Kultur soll demzufolge auf ein germanisches Urvolk zurück gehen, das gemeinsam mit dem mythischen Inselreich Atlantis untergegangen sei. Den entscheidenden ideologischen Einfluss hierfür sei der niederländische Atlantis-Forscher Herman Wirth gewesen, sagte Bellgart. Von dessen Theorien der menschlichen Kulturentwicklung sei Roselius so sehr überzeugt gewesen, dass er sie in seinem Bauvorhaben versinnbildlicht sehen wollte. Wirth verfasste Schriften zur »Urgeschichte der atlantisch-nordischen Rasse«, forderte die Rückkehr zur »Reinrassigkeit der Arier« und war Mitgründer der Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe der SS. Roselius ließ sich vor allem von Wirths Buch »Der Aufgang der Menschheit: Untersuchungen zur Geschichte der Religion, Symbolik und Schrift der atlantisch-nordischen Rasse« inspirieren.
An der Fassade des »Haus Atlantis« war ursprünglich eine riesengroße Plastik angebracht gewesen, erzählt Bellgart und zeigt einige alte Fotos. Deren zentrales Element war ein an den Weltenbaum gefesselter Odin, der Hauptgott in der nordischen und germanischen Mythologie. Im Zweiten Weltkrieg wurde die imposante Fassade beschädigt, bei den darauffolgenden Restaurationen und Neugestaltungen verzichtete man auf die Odin-Plastik. Seit 2003 befindet sich die Böttcherstraße im Besitz der Stiftung Bremer Sparer-Dank. Das Hotel Radisson Blu vermietet den schummrigen »Himmelssaal« gerne für Firmenveranstaltungen.