500 Jahre Brasilien

Erzählungen von Geschichte

Zwischen Jubel-Rhetorik und Vernichtungskritik lässt sich die Geschichte des anderen Brasilien entdecken.

Machten die Hausherren eine gute oder schlechte Entdeckung, als am 22. April 1500 die ersten Portugiesen vor der brasilianischen Küste die Beiboote zu Wasser ließen? Wie vor acht Jahren bei den Kolumbus-Feiern entzündet sich an der arithmetischen Willkür eines Gedenktages in Brasilien eine gesellschaftliche Debatte um die eigene Geschichte. Denn die kritischen Einwürfe gegen die offiziellen »Entdeckungs»-Feierlichkeiten, die am Oster-Wochenende in der Hafenstadt Porto Seguro im Bundesstaat Bahia stattfanden, stellen die Verbrechen an den »Ind'genas« in den Mittelpunkt.

Kein Zweifel, die vormaligen Hausherren sind die ältesten und die jüngsten Opfer der europäischen Moderne, die über die »Neue Welt« hereinbrach. Sie und ihr Land sind seit 500 Jahren einer so radikalen ökonomischen Verwertungslogik unterworfen, dass sich für die Ind'genas - wie für die afrikanischen Sklaven und ihre brasilianischen Nachfahren - brasilianische Geschichte auf ein Kontinuum von Unterdrückung, Entrechtung und Zwangsakkulturation zu verengen.

Der tragischen Erzählung der Verlierer, die unter dem Motto »Die anderen 500« in Porto Seguro demonstrierten, steht die Erfolgsgeschichte gegenüber, wie sie dort auch vom offiziellen Brasilien propagiert wird. Es ist die Erzählung Fernando Henrique Cardosos, des Präsidenten Brasiliens. Der international renommierter Soziologe hat seine Analysen von Sklaverei und antidemokratischer Entwicklung der brasilianischen Gesellschaft, inzischen gegen eine evolutionäre Perspektive eingetauscht, die Brasilien als würdigen Ebenpart der westlichen Staaten auf der Höhe der Modernität präsentiert.

Cardosos Erzählung ist glatt: Megaprobleme wie exzessive Polizeigewalt, Straßenkinder, die ungelöste Landfrage, die Ind'gena-Problematik, die ungleichste Einkommensverteilung auf der Welt, das städtische Elend etc. schrumpfen zu Residualkosten eines unaufhaltsamen Aufstiegs einer Großmacht. Doch auch die meisten seiner intellektuellen Kritiker teilen wie selbstverständlich die Perspektive, die Brasilien als Teil der europäisch geprägten Moderne versteht und sie nach deren Kriterien bemisst.

Beide Erzählungen küren ihre spezifischen Helden, pflegen ihre Mythen und operieren mit spezifischen historischen Auslassungen. Für die erste Erzählung hat die Geschichte nach 1500 nur noch die Funktion einer negativen Identität. Vielfach pflegt sie indianisch-afrikanische Reinheitsmythen vom pazifistischen Waldhüter und kulturstarken Widerstandskämpfer. Wenn indianische Ethnien heute in ihren Regenwald-Reservaten profitable Geschäfte etwa mit Baumholz aufziehen, protzige Autos fahren und ihren Beschäftigten auch nur Hungerlöhne zahlen, findet diese Erzählung auch schon ihr Ende.

Die Erfolgsstory der brasilianischen Moderne hingegen stellt sich auf den Berg der Gegenwart und betrachtet allein die umliegenden Gipfel der »zivilisatorischen Errungenschaften«, ohne die Leichen an den Hängen zu zählen. Was hat die Geschichte Brasiliens seit 1500 geprägt?

Entwicklung auf Pump

Als Kolonie hatte das »Land vom Heiligen Kreuz«, wie die Portugiesen ihre Neueroberung getauft hatten, nur eine Funktion: den Reichtum der Metropole zu mehren. Der erste Brief eines Mitglieds der Expedition Pedro çlvares Cabrals nach Lissabon beeilte sich, die Qualitäten des neuen Landes zu beurteilen: »Wir wissen noch nicht, ob es Gold oder Silber oder sonstiges Metall hier gibt. Aber das Land selbst hat ein angenehmes Klima und Wasser im Überfluss. Es ist voller Liebreiz, und hier gedeiht alles«, schrieb Pro Vaz de Caminha am 1. Mai 1500 an seinen König Manuel I. Die tropische Natur strotzte vor Saft, und das half den Eroberern, die Enttäuschung über das nicht vorhandene Eldorado zu überwinden.

Das rote Färberholz »Pau-Brasil« gab dem Land bald seinen Namen und begründete eine Wirtschaftsweise, die den Boden als monetarisierbares Reservoir und seine Bewohner als Mittel der dieses Monetarisierung ansah. In dieser Logik betrachtet, erlebte die Kolonie unterschiedliche ökonomische Zyklen. In diesen Zeiträumen war es jeweils ein Produkt - zuerst Zuckerrohr, dann Baumwolle und Kaffee -, das die größten Exportgewinne erbrachte.

Gegen diese über Jahrhunderte eingeübte Cash-crop-Ökonomie konnte sich eine Industrialisierungspolitik nur schwer durchsetzen. Mit den Devisen und den europäischen Einwanderern, die der Kaffee ins Land holte, begann eine zaghafte Industrialisierung. Doch erst nach 1930 - dann allerdings in Riesensprüngen - entwickelten sich Teile Brasiliens, vor allem die Region um Rio de Janeiro und S‹o Paulo.

Mittelschichten entstanden, eine frühe anarchistische Bewegung, Gewerkschaften und seit 1922 eine kommunistische Partei machten in diesen Zentren den Gegensatz von Kapital und Arbeit sichtbar. Bis 1930 versuchten die Regierungen diesen Konflikt mit dem Polizei-Knüppel zu lösen. Getœlio Vargas, Präsident von 1930 bis 1945 und 1951 bis 1954, wattierte den Knüppel mit einer korporatistischen »Arbeiterschutz»-Gesetzgebung. Er begründete den brasilianischen Populismus. Inspiriert vom Vorbild Mussolinis, brachte er erstmals die urbanen Massen politisch und propagandistisch ins Spiel.

Für seine Industriepolitik wusste Vargas auch weltpolitische Gegensätze zu nutzen: Anfang der vierziger Jahre gelang es, für Brasiliens erstes großes Stahlwerk US-amerikanisches Geld und Know-how zu erhalten. Die US-Regierung stimmte aber nur zu, um einen bevorstehenden Abschluss mit der Essener Krupp AG und damit einen Posten Nazi-Deutschlands in Brasilien zu verhindern. Vargas hatte öffentlich mit den »starken faschistischen Nationen« geflirtet und mit dem Dritten Reich einträgliche Tauschgeschäfte abgewickelt.

Die nationalistische Import-Substitutionspolitik seit Vargas zeigte sich zwar scheinbar erfolgreich. Der Erfolg konnte aber nur auf Pump finanziert werden und band die brasilianische Wirtschaft umso fester in die Zwänge des internationalen Finanzsystems ein.

Ab 1955 strömten in großem Umfang ausländische Investitionen auf den Industriesektor. Die Boom-Phasen während der Regierung von Juscelino Kubitschek (1956-1961) und der Militärdiktatur (1964-1985) führten zu hohen Wachstumsraten und machten Brasilien zu einem der zehn größten Industrieländer.

Kubitschek, der Vater des ersten brasilianischen »Wirtschaftswunders«, hinterließ 1961 um mehrere hundert Prozent gestiegene Produktionsziffern, eine - ausländische - Automobil-Industrie einschließlich eines VW-Werkes, eine neue Hauptstadt und neue Regierungsbehörden wie jene »für die Entwicklung des Nordostens« (Sudene). Zurück blieben aber auch eine hohe Inflation, ein Haushaltsdefizit und Auslandsschulden.

Die wirtschaftlichen Erfolgsindizes trugen dazu bei, dass sich die Bevölkerungsmehrheit nach 1964 nicht offensiv gegen die Militärdiktatur stellte. Vor allem während des »zweiten Wirtschaftswunders« unter dem General Médici verzeichnete die Wirtschaft ein starkes Wachstum bei sinkender Inflation. Das Wunder wurde aber wiederum mit ausländischen Investitionen, vor allem aber mit exzessiver Kreditaufnahme sehr irdisch finanziert.

Zwei Brasilien

Gemessen an den modernisierungs-theoretischen Normen hat Brasilien also beachtliche Erfolge vorzuweisen. Brasilien? Dieser kollektive Singular verbietet sich auf fast allen Gebieten. Nicht nur dass diese Entwicklungserfolge sehr ungleich auf einen industrialisierten Süden, einen verarmten Nordosten, den agrarischen Westen und den Norden des Regenwalds verteilt sind. Kein Land Südamerikas kennt einen solch ausgeprägten Küste-Binnenland-Gegensatz. Als Folge der portugiesischen Kolonialpolitik sind alle bedeutenden Städte entlang der Atlantikküste oder in ihrer Nähe (S‹o Paulo) entstanden und verbanden sich zu einem nahezu geschlossenen politisch-ökonomischen System.

Ein weiteres Jubiläum symbolisiert den Mangel an Integration: Die Hauptstadt Bras'lia feiert in diesem Jahr ihr 40jähriges Bestehen. Mitten ins Nichts des brasilianischen Hochplateaus gesetzt, sollte Bras'lia den sert‹o, das »Hinter»-Land, ins fortgeschrittene Brasilien heimholen; sie würde den Graben zwischen Zivilisation und Barbarei zuschütten, das Mittelalter beenden und die Entwicklung beschleunigen.

Der sert‹o lieferte die Bühne für den Gründungsmythos der bandeirantes, der Indiofänger-Trupps, die im 16. und 17. Jahrhundert von der Küste aus das Landesinnere erkundeten und den späteren - spärlichen - Siedlerzügen den Weg bahnten. Wenn überhaupt, so geriet der sert‹o als Krankheitskeim am Gesellschaftskörper in den Blick des nationalen Zentrums. Die Sanitär-Kampagnen des frühen 20. Jahrhunderts sollten die Hinterländer Brasiliens weiter erschließen und medizinisch, aber auch moralisch kurieren - nicht nur Seuchen und Erreger, sondern auch die »angeborene Faulheit« und Modernisierungsfeindlichkeit der sertanejos galt es auszurotten.

Die Integration des sert‹o steht im Grunde immer noch aus. Vielleicht zu seinem Besten: Der Movimento dos Sem-Terra (MST), die Landlosenbewegung Brasiliens, ist derzeit nicht nur die aktivste soziale Bewegung Brasiliens und in den Augen vieler angesichts der Apathie der linken Parteien im Parlament die einzig wirksame politische Opposition zur Regierungspolitik. Sie hat am Ende des 20. Jahrhunderts der brasilianischen Gesellschaft vor Augen geführt, dass es ein anderes, ein genauso berechtigtes Brasilien gibt, ein ländliches Brasilien, dessen Existenz ein alternatives Lebensmodell zum Horror der städtischen favelas bedeutet.

Demokratie für die Eliten

Man kann die Zeit seit der Unabhängigkeit im Jahre 1822 als Geschichte eines formaldemokratischen Autoritarismus lesen: Das Kaiserreich gab sich eine Verfassung, behielt aber der Monarchie ihr Gottesgnadentum und dem Kaiser ein umfassendes Vetorecht vor. Die Erste Republik Brasiliens (1889-1930) beließ die Großgrundbesitzer-Elite an der Macht. Auch die so genannte Revolution von 1930 verteilte die Macht nur regional um, indem sie den eingeübten Wechsel der Präsidentschaft zwischen den ökonomisch starken Bundesstaaten S‹o Paulo und Minas Gerais durchbrach.

In den Bundesstaaten und den einzelnen Gemeinden teilten sich wenige Familienverbände die politische Herrschaft. Die große Mehrheit der Bevölkerung war von politischer Partizipation ausgeschlossen. Bis 1932, als das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde (und damit erstmals auch Frauen wählen durften), konnten weniger als zehn Prozent der Bevölkerung formale demokratische Rechte in Anspruch nehmen.

Ebenso berechtigt ist es aber, diese Zeit als eine Geschichte gesellschaftlichen Widerstands von unten zu lesen. Schon in der Kolonialzeit ertrugen weder die einstigen Hausherren noch die Sklaven ihr Schicksal widerstandslos. In den »Kriegen der Barbaren« des 17. Jahrhunderts lieferten die wehrfähigsten Gruppen den Eroberern erbitterte Rückzugsgefechte. Die »Republik von Palmares« unter dem legendären Führer Zumbi, die sich insgesamt über 60 Jahre (1630-1695) hielt, ist nur das spektakulärste Beispiel eines Sklavenaufstandes. Die gesamte Kolonialzeit hindurch konnten sich die senhores ihrer Sklaven-Ruhe nicht sicher sein.

In den Anfangsjahren der Republik vermengten Massenbewegungen auf dem Land wie die von Canudos in Bahia (1893-1897) und des Contestado (1914-1916) in Südbrasilien religiöse Motive mit Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit. In den Städten protestierten Bewegungen erst spontan wie 1904 gegen die Zwangsimpfung in Rio de Janeiro und seit den ersten Streiks der zwanziger Jahre zunehmend organisiert auf die konservativ-autoritäre Modernisierung, die nicht nur Einkommen, sondern auch Entwicklung und Demokratie höchst ungleich verteilte.

Zahlreiche Streiks und immer lautere Rufe nach »Basisreformen« wie einer Landreform, der Verstaatlichung von Industrien und einer betrieblicher Mitbestimmung riefen 1964 die Militärs aus den Kasernen. Dass sie sich rund zwanzig Jahre später dorthin wieder zurückzogen, war zwar nicht der isolierten Mini-Guerilla zu verdanken, aber auch nicht einer demokratischen Läuterung der Militärs. Eher mischte sich die ökonomische Stagflation wirksam mit dem wachsenden Druck der Arbeiterbewegung. 1980 ließ die Militärregierung Parteien wieder zu. Die neue Arbeiterpartei PT entstand, 1983 der ihr nahe stehende Gewerkschaftsverband CUT. Ein Jahr später wuchs sich die Kampagne für sofortige Direktwahlen zu einer eindrucksvollen Massenbewegung gegen die Diktatur aus.

Eine neue Gründungserzählung

Das, was heute in Brasilien als höchst lebendiges Beispiel von Zivilgesellschaft wahrzunehmen ist, wurzelt in dieser langen Gegentradition und bezieht hieraus politische Kraft und ein wirksames mythisches Potenzial. Ind'gena-Organisationen, die Bewegung der Afrobrasilianer, die Landlosen, die Entwicklungs-NGOs sind in Netzen verbunden. Die Lösung der Reservaten-Problematik wird ebenso wenig von der Tagesordnung verschwinden, wie Politiker heute noch umstandslos einer verwirklichten »Rassendemokratie« das Wort reden können.

Von dieser Gegenwart ausgehend, bietet die Geschichte seit 1500 ausreichend Material für eine alternative Gründungserzählung. Sie muss mehrere Kapitel eröffnen: Die Verbrechen der Kolonialzeit werden ergänzt durch die Erzählung vom sert‹o, dem alten anderen Brasilien. Und sie muss von der gleichsam dritten Gründung Brasiliens erzählen, von der Einwanderung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, von den vielen Bevölkerungsgruppen, den Deutschen, Italienern, Polen, Syrern und Japanern. Sie alle hat die traditionelle Perspektive von dentres ra ç as fundadoras, den drei »Gründungrassen« (Portugiesen, Indios, Afrikaner) außen vor gelassen.

Eine ausführliche Fassung des Beitrags erscheint in der nächsten Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten. Weitere Beiträge zum Thema »500 Jahre Brasilien« werden folgen.