In Indien gibt es große Proteste nach der Vergewaltigung und Tötung einer Ärztin

Ermordet im Dienst

Die Vergewaltigung und Ermordung einer jungen Medizinerin haben Indien aufgerüttelt. Seit Wochen halten die Proteste an, die Sicherheit für Frauen fordern.

Es sind wohl die bisher am längsten währenden Proteste des medizinischen Fachpersonals in Indien mindestens seit den achtziger Jahren: Seit dem Bekanntwerden der Vergewaltigung und Ermordung Abhaya H.s am 9. August, einer angehenden Ärztin am RG Kar Medical College and Hospital in Kolkata, reißen vor allem im Unionsstaat Westbengalen die Proteste nicht ab. Am 17. August hatten verschiedene Medizinervereinigungen landesweit zum Streik aufgerufen, nur dringende Notfälle wurden an diesem Tag in den Kliniken behandelt. In mehreren Krankenhäusern, teils auch in anderen Regionen wie dem südindischen Karnataka, hielt der Streik sogar noch länger an.

Assistenzärzte am RG Kar Hospital selbst sind nach wie vor im Streik, nun schon seit drei Wochen. Auch demonstriert wird weiter: Am 31. August gab es in der Bundeshauptstadt Neu-Delhi eine Kundgebung, tags darauf waren in Kolkata besonders viele Protestierende auf den Straßen, die von der Politik »Handeln statt Worte«, so eine Losung auf den Schildern, einforderten.

 In den ersten Verlautbarungen hieß es, die Obduktion deute auf eine Massenvergewaltigung hin.

Noch ist unklar, wie viele Mittäter der verhaftete Hauptverdächtige hatte. In den ersten Verlautbarungen hieß es, die Obduktion deute auf eine Massenvergewaltigung hin. Die Leiche des Opfers war offenbar kurz nach der Tat in einem Seminarraum im dritten Stockwerk der Klinik gefunden worden.

»Gerechtigkeit für Abhaya« fordert ein überdimensionales Banner an der Fassade des Ausbildungskrankenhauses. Aufgehängt haben es die Kolleginnen und Kollegen des Opfers – vor allem die jungen Ärzte und Ärztinnen, die dort ihre Praxisstudien absolvieren, wollen nicht nur volle Aufklärung dessen, was H. angetan wurde und eine Bestrafung der Schuldigen, sondern auch, dass sich Ähnliches nirgends wiederholt. Gerade Frauen, die bei Kliniken beschäftigt sind, hätten große Angst vor Übergriffen, hören Reporter immer wieder bei den Demonstrationen, Kundgebungen und Sitzstreiks.

Sonderermittlungskommission eingesetzt

»Kolkatas Straßen sind zu einem Schlachtfeld geworden«, heißt es in einem Videobeitrag der Wochenzeitung India Today. Berichtet wurde auch, Klinikleiter Sandip Ghosh sei abgesetzt und aus der Ärztevereinigung ausgeschlossen worden. Vertuschungsvorwürfe werden gegen ihn erhoben, auch von Korruption ist die Rede. Deshalb ermitteln nicht nur die Kriminalisten des Central Bureau of Investigation (CBI), sondern auch die Finanzbehörden.

Dass sogar der Supreme Court, Indiens höchster Gerichtshof, eine Sonderermittlungskommission eingesetzt hat, zeigt die Bedeutung des Falls, der das ganze Land aufrüttelt. Patriarchale Strukturen sind in breiten Bevölkerungsschichten Indiens traditionell anerkannt. Dem National Crime Records Bureau (NCRB) zufolge stieg die Gesamtzahl der Fälle von Gewalt gegen Frauen zwischen 2020 und 2022 von 371.000 auf 445.000 an, jeden Tag wurden durchschnittlich 90 Vergewaltigungen gemeldet – die tatsächlichen Fallzahlen dürften deutlich höher liegen.

Forderung nach baldigen Gesetzesverschärfungen

In einem offenen Brief an Gesundheitsminister Jagat Prakash Nadda, der zur hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi gehört, hat die Indian Medical Association (IMA) ihre Forderung nach baldigen Gesetzesverschärfungen zum Schutz des medizinischen Personals bekräftigt.

Ein erster Gesetzentwurf wurde zwar schon 2019 diskutiert, weiter ging es in den Folgejahren damit aber nicht. 25 regional geltende Schutzgesetze in den Unionsstaaten hätten den Fall Abhaya H.s und drei andere von 2012, 2019 und 2023, die in dem Schreiben aufgelistet werden, nicht verhindert, heißt es von der IMA. Die Ärzteschaft gehöre zu jenen Berufsgruppen, die besonderen Schutzes bedürften, wie ein höchstrichterliches Urteil schon 2004 festgestellt habe.

Als Vorbild für ein solches Bundesgesetz wird ein Gesetz aus dem von der Kommunistischen Partei Indiens regierten Unionsstaat Kerala genannt. In einem am 17. August an Modi versandten Brief hatte die IMA weitere Forderungen erhoben, so nach Videokameras und zusätzlichem Sicherheitspersonal.

Sicherheitspersonal um 25 Prozent aufstocken

»Die Sicherheitsvorschriften aller Krankenhäuser sollten nicht weniger anspruchsvoll als die an Flughäfen sein. Ein erster Schritt wäre, die Kliniken zu ›sicheren Zonen‹ zu erklären mit obligatorischer Sicherheitsausstattung«, heißt es dazu. Der Indian Express schrieb unter Berufung auf eine Quelle aus dem Gesundheitsministerium, vom Zentralstaat betriebenen Kliniken sei schon erlaubt worden, ihr Sicherheitspersonal um 25 Prozent aufzustocken.

Westbengalen wird vom konservativen Trinamool Congress (TMC) regiert. »Wenn die Regierung des Bundesstaats die Macht hätte, Gesetze zu erlassen, hätte ich in sieben Tagen eines erlassen, das die Todesstrafe bei Vergewaltigungen vorschreibt«, hatte Mamata Banerjee, die dort Chief Minister ist, auf einer Kundgebung gesagt. Sie gehört zu Modis entschiedenen politischen Gegnern. Seit einigen Tagen ist vermehrt zu sehen, dass BJP-Mitglieder versuchen, die Proteste parteipolitisch zu kapern.

Nachdem am 27. August die Polizei in Kolkata mit Tränengas, Wasserwerfern und Schlagstöcken gegen Teilnehmende einer Demonstration vorgegangen war, tauchten immer mehr Plakate auf, die den Rücktritt Banerjees fordern – die Beteiligung an einem zwölfstündigen Streik tags darauf, zu dem die regionale BJP aufgerufen hatte, blieb aber eher verhalten. Viele Geschäfte im Zentrum Kolkatas haben wegen der aufgeheizten Stimmung ohnehin seit Tagen geschlossen.