Separatisten haben in Pakistans ärmster Provinz Belutschistan mehrere Anschläge verübt

Ein Massaker zum Todestag

Die Separatistenbewegung Baloch Liberation Army tötete Anfang vergangener Woche über 70 Menschen an verschiedenen Orten der pakistanischen Provinz Belutschistan.

Am Montag vergangener Woche stoppten rund drei Dutzend Separatisten der Baloch Liberation Army (BLA) 22 Fahrzeuge auf einer Schnellstraße im nordöstlichen Distrikt Musakhel der pakistanischen Provinz Belutschistan (englischer Name: Balochistan). Nach Überprüfung der Ausweispapiere exekutierten sie 23 Menschen aus der Nachbarprovinz Punjab, die in Belu­tschistan einer Arbeit nachgingen, und steckten deren Autos in Brand. Mit der Sprengung einer Eisenbahnbrücke in Bolan zerstörten sie die zentrale Zugverbindung von der Provinzhauptstadt Quetta in den Iran.

Kämpfer der BLA erschossen mindestens elf Menschen bei einem Angriff auf eine Polizeistation in Kalat, überfielen drei weitere Polizeistationen in Mastung, Pasni und Suntsar und plünderten ein Waffendepot der Grenztruppen in Bela. Dort starb die 22jährige Jurastudentin Mahal Baloch aus Turbat als dritte Selbstmordattentäterin in der Geschichte der BLA. Sie lenkte ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug in das gesicherte Eingangstor der Militärstation und öffnete mit der Explosion nachrückenden Kämpfern den Zugang zur Kaserne.

Der Sprecher der BLA zählte im Laufe von 36 Stunden über 130 getötete pakistanische Soldaten, von 71 sprechen pakistanische Medien wie die Tageszeitung Dawn. 800 Aktivisten sollen bei der Vorbereitung und Durchführung der diversen Anschläge der »Operation Herof« (Operation Sturm) mitgewirkt haben, darunter neun Selbstmordattentäter. Die Operation soll nur eine erste Phase darstellen, das Ziel der Organisation ist die Kontrolle der ganzen Provinz.

Belutschistan ist reich an natürlichen Ressourcen wie Kupfer, Gold, Diamanten und Erdgas; allerdings handelt es sich zugleich um die wirtschaftlich ärmste Provinz Pakistans.

Innerhalb von eineinhalb Tagen erfolgten Angriffe in insgesamt zwölf unterschiedlichen Orten Belutschistans. Die Provinz ist mit rund 350.000 Quadratkilometern die größte, aber mit nur rund 15 Millionen Einwohnern die am dünnsten besiedelte Pakistans. Die provinzweit koordinierten Anschläge fallen auf den 18. Jahrestag der Er­mordung von Nawab Akbar Bugti, einem separatistischen Anführer der Belutschen und Oberhaupt des Stammes der Bugti. Der damals 80jährige wurde am 26. August 2006 bei der Sprengung der Höhle im Distrikt Kohlu getötet, die ihm und seinen Anhängern als Versteck gedient hatte. Pakistans Militärdiktator Pervez Mu­sharraf, der sich 1999 an die Macht geputscht hatte und bis zu seinem Rücktritt 2008 als Präsident das Land regierte, kommentierte damals trocken, niemand werde erfahren, »was sie getroffen hat«.

Die pakistanische Armee, die zu dieser Zeit in der Region eine Militäroperation gegen Bugti und seine Anhänger durchführte, streitet bis heute jede Kenntnis darüber ab, wer oder was die Höhle pulverisierte. Sie bestätigt lediglich den Fund von Brillenresten, die Bugti zugeordnet werden können, der ab Februar 1989 für eineinhalb Jahre Ministerpräsident Belutschistans gewesen war.

Belutschen leben über drei Länder verteilt

Die ethnische Gruppe der Belutschen lebt über drei Länder verteilt: in der pakistanischen Provinz Belutschistan, der ostiranischen Provinz Sistan und Belutschistan sowie den südafghanischen Provinzen Nimruz und Helmand. Nach dem Teilungskrieg zwischen Ost- und Westpakistan im Jahre 1971, aus dem Bangladesh auf dem Territorium des vormaligen Ostpakistans als neuer Staat hervorging, wurden die Belutschen von der pakistanischen Zentralregierung in Islamabad marginalisiert und militärisch unterdrückt. Nie wieder sollten Separatisten im verbliebenen Pakistan ihre Stimme erheben können.

Belutschistan ist reich an natürlichen Ressourcen wie Kupfer, Gold, Diamanten und Erdgas; allerdings handelt es sich zugleich um die wirtschaftlich ärmste Provinz Pakistans. Die Zentralregierung in Islamabad beutet die Region aus. Abbaurechte und Entwicklungsprojekte gehen an chinesische Firmen, die die Arbeiten mit chinesischen Arbeitern erledigen, oder an die Wirtschaftsbetriebe von Heer, Marine oder Luftwaffe, die die Zusatzeinkünfte pensionierter Offiziere aus dem Punjab erwirtschaften, der Provinz, in der mehr als die Hälfte der Einwohner Pakistans leben.

In Belutschistan aber findet wirtschaftliche und infrastrukturelle Entwicklung so gut wie nicht statt. Vielmehr verkauft die Zentralregierung viele Ressourcen an ausländische Konglomerate: Der auch für eine militärische Nutzung ausgelegte neue Tiefseehafen in Gwadar an der Küste Belutschistans – ein wichtiger strategischer Knotenpunkt in Chinas Projekt einer »neuen Seidenstraße« – wurde primär von der Volksrepublik finanziert und mit chinesischen Arbeitern gebaut. China will den Zugang zum Arabischen Meer in erster Linie für Erdölimporte. Das trieb zunächst die Mieten vor Ort in die Höhe und nun fischen dort die großen industriellen Fangschiffe aus China mit ihren Schleppnetzen den einheimischen Fischern die Arbeitsplätze weg. Wer das beklagt, bekommt aus der Hauptstadt meist nur gesagt, dass er mit Terroristen sympathisiere. Es ist diese permanente Missachtung und Ausbeutung durch die Zentralregierung, die den Konflikt seit Jahrzehnten vor Ort lebendig hält.

Iran unterdrückt die Belutschen ebenfalls

Auch durch Militäroperationen gegen die BLA sind vergangene Woche 14 Soldaten getötet wurden. Bei diesen Operationen kamen 21 mutmaßliche Terroristen ums Leben, die aber nicht in die staatliche Opferstatistik eingehen. Viele von ihnen waren Anfang 20 und Studenten. Die BLA kämpft seit ihrer Gründung 2000 für die Unabhängigkeit der Region von der Zentralregierung in Islamabad. Der seit der Unabhängigkeit Pakistans vor acht Jahrzehnten schwelende Konflikt ist nicht religiös geprägt, seit dem verlorenen Krieg gegen Ostpakistan vor fünf Jahrzehnten wird er von staatlicher Seite aus hemmungslos militarisiert.

Der Iran unterdrückt die Belutschen ebenfalls militärisch. Am 16. Januar dieses Jahres bombardierten iranische Revolutionsgarden das belutschische Dorf Panjgur in Pakistan. Das Land revanchierte sich am 18. Januar mit Luftangriffen gegen die Stadt Saravan auf der iranischen Seite der Grenze. Beide Militäroperationen galten ausdrücklich den Belutschen. Nach Irans Raketenbeschuss auf Israel am 14. April hat Pakistan seine Partnerschaft mit dem Regime der Ayatollahs wieder erneuert und vertieft. Am 22. April besuchte Irans damaliger Präsident Ebrahim Raisi erstmalig Pakistan.

Mit demonstrativer Entschlossenheit beauftragt Präsident Asif Ali Zardari Innenminister Mohsin Naqvi und den Ministerpräsidenten Belutschistans, Sarfraz Bugti, dessen Vater ein politischer Rivale von Nawab Akbar Bugti war, mit der »völligen Vernichtung der terroristischen Elemente«. Naqvi erklärte daraufhin umgehend seine uneingeschränkte Unterstützung für all die Maßnahmen, die Sarfraz Bugti für angemessen halten sollte. Der wiederum bat das Militär um Rat und Hilfe.

Wirtschaftskrise spielt den Separatisten in die Karten

Die Opposition in der Nationalversammlung in Islamabad spricht von einem Versagen der pakistanischen Geheimdienste und fordert eine verstärkte Überwachung Belutschistans. Der chinesische Geheimdienst ist zum Schutz seiner Staatsangehörigen dort ebenfalls mit Aufklärungsmitteln und -kräften präsent. Der Polizeidirektor der Provinz wurde von der Zentralregierung ausgewechselt. Die Strafverfolgungsbehörden eröffneten mehrere Verfahren wegen Terrorismus gegen unbekannt, die in die Zuständigkeit der Militärgerichtshöfe fallen.

Die landesweite Wirtschaftskrise spielt jedoch eher den Separatisten in die Karten; immer mehr Pakistanis präferieren eine politische statt einer militärischen Lösung des Konflikts: Kommentatoren in den anderen Provinzen räumen mittlerweile ein, dass die Belutschen mehr Gehör finden sollten.

Die primäre Bedrohung für das pakistanische Militär bilden gegenwärtig die hochgerüsteten Truppen des pakistanischen Taliban-Ablegers Tehreek-i-Taliban Pakistan.

Die primäre Bedrohung für das pakistanische Militär bilden gegenwärtig ohnehin die hochgerüsteten Truppen des pakistanischen Taliban-Ablegers Tehreek-i-Taliban Pakistan (TTP). Eine Militäroffensive in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa ist derzeit dringlicher als in Belutschistan. Am Donnerstag vergangener Woche veröffentlichte die TTP ein Video mit drei Geiseln, einem ranghohen Offizier aus dem punjabischen Rawalpindi mit seinen zwei Brüdern, die tags zuvor bei der Beerdigung ihres verstorbenen Vaters entführt worden waren. Der Staat verliert in der Provinz seit Monaten zusehends die Kontrolle.

Von einer größeren Militäroperation gegen die BLA dürfte die Zentralregierung wohl auch absehen, weil sie im Erfolgsfall verärgerte Belutschen in die Arme des »Islamischen Staats Provinz Khorasan« treiben könnte. Im Vergleich mit den Taliban und dem »Islamischen Staat« sind die Forderungen und Ziele der BLA eher nachvollziehbar und finden Gehör in weiten Kreisen der Gesellschaft. Eine militärische Niederschlagung der BLA würde zwangsläufig zu einer künftigen weiteren Eskalation führen.