Warum der Toilettengang immer ungemütlicher wird

Nicht mehr hinsetzen

Die Stadt Gelsenkirchen geht mit einem Speziallack gegen Stehpinkler im öffentlichen Raum vor. Aber das wird nicht reichen. Die Intimität der Toilettenkabine ist akut bedroht.

Mit dem »Versuch über den Stillen Ort« hat Peter Handke 2012 ein Epitaph auf die Toilette verfasst, das wie viele seiner Texte weder einen Vorläufer hat noch einen Nachfolger finden wird. Darin nennt er die Toilette – im Internat, im Tanzcafé, zu Hause oder auch im katholischen Gotteshaus, wo sie einen Rückzug innerhalb des Rückzugs ermögliche – einen »Ort für eine ganz verschiedene Notdurft« von der körperlichen.

Wenn eine Frau in der Öffentlichkeit stehend pinkelt, gilt das als Anzeichen dafür, dass sie betrunken oder sonst nicht ganz bei sich, wenn nicht gar verrückt ist. Wenn in der Herrentoilette der Professor neben seinem Doktoranden am Becken steht und sich schiffend über Adorno unterhält, werden weder Arzt noch Ordnungsamt gerufen.

Deshalb beklagt er die schwindenden Gelegenheiten, sich dort aufzuhalten. Seit seiner Kindheit sei ihm die Toilettenkabine als Refugium der Einkehr erschienen, das ihm vor den Nächsten wie den Fernsten Ruhe geboten habe. Über seine Erinnerung an die Internatstoilette erzählt er: »Erstmals war ich es, war es meine Person, um die es ging an dem Stillen Ort. Und erstmals brachte der mich zum Hören (…) Was sich so hören ließ, war nicht allein das vielerlei Rauschen, (…) vielmehr das dadurch und ebenso durch das Fernsein gedämpfte Lärmen (…), welches derart nicht mehr als Lärm ankam, nicht mehr als Gegell und Gebrüll, sondern, für Momente, fast als etwas Heimeliges.«

In diesem Sinn ist die Toilette sogar das Gegenteil eines Orts der Notdurft. Sie ermöglicht demjenigen, der sich dorthin zurückzieht, das erbarmungslos fortwährende Treiben des Alltags zu unterbrechen und den Strom der Anforderungen für kurze Zeit unter dem Vorwand, dass es nicht anders gehe, zu suspendieren.

Handkes Versuch hat aber nicht nur die Disziplinarinstitutionen (Schulen, Klöster, Internate) zum Gegenstand, sondern auch die Geschichte der Männlichkeit. Männer verfügen – zumindest in den meisten Staaten des Westens – spätestens seit Erfindung des Urinals 1866 und dessen Patentierung 16 Jahre später über das fragwürdige Privileg, öffentlich pinkeln zu dürfen, ohne sich hinsetzen oder wenigsten hinhocken zu müssen.

Bepinkelte Brillen

Ohne daraus ein Indiz für den Fortbestand des Patriarchats zu basteln, lässt sich feststellen, dass in dieser Tatsache ein unaufgehobenes Moment der Naturgeschichte fortlebt. Wenn eine Frau in der Öffentlichkeit stehend pinkelt, gilt das als Anzeichen dafür, dass sie betrunken oder sonst nicht ganz bei sich, wenn nicht gar verrückt ist. Wenn in der Herrentoilette der Professor neben seinem Doktoranden am Becken steht und sich schiffend über Adorno unterhält, werden weder Arzt noch Ordnungsamt gerufen.

Es ist nicht abwegig, dass Urinale auf Herrentoiletten überhaupt erst aus der Resignation darüber eingeführt wurden, dass Männer wohl nie lernen werden, sich beim Pinkeln hinzusetzen. Deshalb sind die als Antwort auf Klagen über öffentliches Stehpinkeln immer wieder zu hörenden Beschwerden, es gebe eben nicht genügend öffentliche Toiletten, untriftig: Wo es die gibt, sind ihre Brillen bepinkelt.

Lapee oder Fidget Spinner?

Lapee oder Fidget Spinner?

Bild:
Lapee: OLIVIA ROHDE - Roskilde Festival

Denn sich eigens hinzusetzen, ist für Männer nicht nur zeitraubend und umständlich – während Frauen ihre Kompliziertheit durch den Wust ihres Handtascheninhalts und dadurch beweisen, dass sie vor den Toiletten Schlange stehen –, es wäre geradezu unkameradschaftlich: Wer unter Freunden und Kollegen mit wem kann, das entscheidet sich am sichersten an den Pissoirs. Und ein Kneipenabend wird erst richtig gemütlich, wenn man die geistigen Getränke (»Bier treibt!«) gemeinschaftlich-ungeistig abschlagen kann.

Wildpinkeln nur die asoziale Form des zivilisierten Stehpinkelns

Deswegen hat hierzulande keine Kommunalpolitik die Folgeschäden öffentlichen Stehpinkelns, die für die Umwelt verheerender als Plastikstrohhalme sind, je durch Einführung zahlreicherer Sitzkabinen für Männer zu begrenzen versucht. Männer müssen beim Pinkeln stehen dürfen – alles andere wäre menschenrechtswidrig –, aber sie sollen dabei nicht die Bausubstanzerosion öffentlicher Gebäude befördern. Stehpinkeln bleibt also erlaubt, nicht jedoch das Wildpinkeln, die asoziale Form des zivilisierten Stehpinkelns.

Die neueste Maßnahme gegen Wildpinkler ist nicht im schnieken München, sondern im proletarischen Gelsenkirchen ersonnen worden, wo keine Partei ihre potentiellen Wähler je zum Sitzpinkeln würde zwingen wollen. Dort soll künftig an den Außenwänden wildpinkelgefährdeter Gebäude ein »hydrophober Lack« aufgetragen werden, der den Urin, statt ihn nur abperlen zu lassen, zurückwirft, so dass umgekehrt die Wand den Pinkler anpinkelt.

Der Anschein, es handle sich beim öffentlichen Urinproblem ausschließlich um den Ausdruck eines atavistischen männlichen Sozialverhaltens, ist trügerisch. Zumindest hat sich solches Sozialverhalten mittlerweile transgressiv verallgemeinert. 

Das ist weit rabiater als die ins Innere der Urinale geklebten Fliegen, die sicherstellen sollen, dass wenigstens an den Becken keiner danebenpinkelt, und die ein prototypisches Beispiel für nudging sind. Gleichzeitig erinnert die Gelsenkirchener Regelung auf unangenehme Weise an die Zacken und Poller, mit denen an Bahnhöfen verhindert werden soll, dass Obdachlose auf den Bänken schlafen.

Außerdem absorbiert der Lack den Urin nicht, sondern lässt ihn abprallen: Der urbane Raum wird fortan sozusagen nicht nur von Wildpinklern, sondern auch von der Stadtverwaltung zugepinkelt. Womit die gegenwärtige Qualität kommunaler Infrastrukturpolitik ziemlich gut auf den Punkt gebracht ist.

Doch der Anschein, es handle sich bei dem öffentlichen Urinproblem ausschließlich um den Ausdruck eines atavistischen männlichen Sozialverhaltens, ist trügerisch. Zumindest hat sich solches Sozialverhalten mittlerweile transgressiv verallgemeinert. Besichtigen lässt sich das an den heteronormativitätskritischen Gender-Toiletten in vielen deutschen Universitäten, auf deren Installation die Hochschuldirektoren so stolz sind.

Vorformen des Frauenurinals wurden im 17. Jahrhundert von Frauen wie Catharina Margaretha Linck genutzt, die, um sich den für sie in Frage kommenden weiblichen Tätigkeiten zu entziehen, als Mann lebte und mittlerweile als Vorläuferin queerer Existenz gilt.

Entweder die zusätzliche Einrichtung von Queer-non-binary-inter-trans-Toiletten hat dort Kuriosa wie die ausschließliche Reservierung einzelner Pissoirs für Frauen mit Penis hervorgebracht, oder die Toiletten werden seitdem komplett geschlechterübergreifend genutzt, was dazu führt, dass auch Frauen sich künftig auf vorbepinkelte Brillen setzen und, wenn sie die Toilettenkabine verlassen, gewärtig sein müssen, als Erstes einen Mann zu erblicken, der am Becken stehend sein Geschlecht auspackt: Das haben sie nun von ihrer Emanzipation.

Ergänzt wird die Pluralisierung des Urinierens durch Gimmicks wie Lapee, ein Urinal für Frauen, das gern bei Events wie der Fusion genutzt wird. Frauen, die dringend müssen und nicht anstehen wollen, können sich damit notfallbedingt das Privileg des Stehpinkelns aneignen. Vorformen des Frauenurinals wurden im 17. Jahrhundert von Frauen wie Catharina Margaretha Linck genutzt, die, um sich den für sie in Frage kommenden weiblichen Tätigkeiten zu entziehen, als Mann lebte und mittlerweile als Vorläuferin queerer Existenz gilt.

Roher Pragmatismus wird zum Leitbild für Gleichstellung

Auch wenn Frauen heutzutage das Lapee benutzen, um bei der Massenparty-Tortur länger durchhalten zu können, handelt es sich immer noch – und erst recht – um ein Provisorium, zu dem sowieso das gesamte Leben wird. Es ist nur noch Zeitverschleiß, den Rock hochzuschlagen oder die Hose herunterzulassen, ein Arbeitsgespräch für den Klogang zu unterbrechen oder mit dem Telefonieren aufzuhören, bloß weil man gerade mal muss; auch das Händewaschen hat man während Corona ja erst wieder lernen müssen.

So wird der rohe Pragmatismus des Chefs, der den Vertrag mit dem Praktikanten nach Beckengang per Handschlag besiegelt, zum Leitbild für eine Gleichstellung, die alle Gleichgestellten, weil sie alle egal sind, aufs niedrigste Niveau zieht. Vorm Toilettengang die Tür zu schließen und sich hinzusetzen, ist für solche Leute ein Affront: nicht nur gegen Männer, sondern auch gegen Frauen, die ja nicht gleichberechtigt wären, benähmen sie sich nicht genauso daneben wie die Männer. Erst wenn keiner mehr Hoffnung hat, sind alle zufrieden.