Die Vorlesungen von Klaus Heinrich über den italienischen Architekten Piranesi

Provokative Ruinen

Der neueste Band des Werks von Klaus Heinrich erscheint in Form einer Zeitschrift: Die Vorlesungen des Religionswissenschaftlers aus dem Wintersemester 1978/1979 beschäftigen sich mit dem Architekten und Kupferstecher Giovanni Piranesi, den Heinrich durch und durch als Aufklärer versteht.

In der 1930 erschienenen Schrift »Das Unbehagen in der Kultur« schrieb Sigmund Freud: »Nun machen wir die phantastische Annahme, Rom sei nicht eine menschliche Wohnstätte, sondern ein psychisches Wesen von ähnlich langer und reichhaltiger Vergangenheit, in dem also nichts, was einmal zustande gekommen war, untergegangen ist, in dem neben der letzten Entwicklungsphase auch alle früheren noch fortbestehen.« Mit diesem Bild versuchte er, die Funktionsweise des menschlichen Unbewussten zu verdeutlichen. Der von Freud stark beeinflusste Religionswissenschaftler Klaus Heinrich (1927–2020) trat in seinen kürzlich zum ersten Mal veröffentlichten Vorlesungen über Giovanni Battista Piranesi aus dem Wintersemester 1978/1979 an, diesen als den Theoretiker eines von Gleichzeitigkeiten geprägten Rom zu präsentieren.

Klaus Heinrich verstand es als Aufgabe der Religionswissenschaft, das Unbewusste der Gesellschaft aufzuklären – und das führte dazu, dass er sich mit Themen beschäftigte, die den Gegenstandsbereich des Fachs weit überschritten.

Heinrich war von 1971 bis 1995 Professor für Religionswissenschaft auf religionsphilosophischer Grundlage an der Freien Universität Berlin. Für seine Arbeit spielte die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eine bedeutende Rolle – er selbst war als Luftwaffenhelfer im Zweiten Weltkrieg wegen Defätismus angeklagt worden. Er verstand es als Aufgabe der Religionswissenschaft, das Unbewusste der Gesellschaft aufzuklären – und das führte dazu, dass er sich mit Themen beschäftigte, die den Gegenstandsbereich des Fachs, wie es heute landläufig verstanden wird, weit überschritten.

Dazu gehört auch die nun vorliegende Ausein­andersetzung mit Giovanni Battista Piranesi (1720–1778), eigentlich ein Architekt, der aber vor allem durch seine detailreichen Kupferstiche antiker Bauwerke Roms und imaginärer Gefängnisse berühmt wurde und dessen Schaffen den Klassizismus deutlich beeinflusste, den Heinrich wiederum als Vorläufer der Monumentalarchitektur des Nationalsozialismus analysiert.

Klassizismus als Vorläufer der NS-Monumentalarchitektur

Erschienen sind die insgesamt 13 Vorlesungen als Ausgabe Nummer 254 der Architekturzeitschrift Arch+ in Zusammenarbeit mit dem Ça-ira-Verlag, der seit 2019 eine Werkausgabe von Heinrich herausgibt. Dessen Bücher waren zuvor im mittlerweile insolventen Frankfurter Stroemfeld-Verlag erschienen. Arch+ hatte bereits 2015 Heinrichs Vor­lesungen zu dem klassizistischen Baumeister Karl Friedrich Schinkel und dem NS-Architekten und Kriegsverbrecher Albert Speer veröffentlicht.

Der vorliegende Text basiert auf Tonbandmitschnitten, die Studierende Heinrichs angefertigt und dann transkribiert hatten. Eingeleitet wird der Band von einem Editorial des Arch+-Herausgebers Anh-Linh Ngo und einem Gespräch mit der Kunsthistorikerin Ursula Panhans-Bühler, einer der damaligen Studentinnen Heinrichs, die sowohl die Aktualität der Überlegungen Heinrichs herausstellen als auch seine Piranesi-Vorlesungen in ihren zeitgeschichtlichen Rahmen einordnen.

In den spätbarocken Stichen Piranesis sucht Heinrich Zugang zu den der Architektur eingeschriebenen verdrängten Schichten der Zivilisationsgeschichte.

Rein optisch ist das Heft über Heinrichs Überlegungen zum Werk des Wahlrömers zwischen Hochglanzzeitschrift und coffee table book zu verorten. Ein separater Bildband ermöglicht es, die jeweils diskutierten Stiche, Gemälde oder Fotografien zu betrachten, ohne vor- oder zurückblättern zu müssen – eine deutlich elegantere Lösung als die traditionelle Bebilderung der älteren Ausgabe über Schinkel und Speer.

Zugleich sind dem Text briefmarkengroße Reproduktionen der jeweils angesprochenen Abbildungen beigegeben, die eher einen groben Eindruck vermitteln helfen. Schließlich lassen die teilweise ganzseitigen und randlosen Drucke ein Studium der Abbildungen wie in einer Ausstellung zu. Ihre eher lose, assoziative Zusammenstellung kann beim einfach Durchblättern teils jedoch irritierend wirken.

Heinrich stellt Piranesi als Zivilisationstheoretiker vor

Piranesis Kupferstiche als solche haben aus heutiger Sicht wenig ­Substantielles über das antike Rom zu sagen, und ebenso sagt Heinrich kaum etwas über den historischen Piranesi. Seine Vorlesungen sind ­keine umfassende historische Einführung in das Leben oder den künstlerischen Hintergrund des Architekten. Vielmehr stellt Heinrich ihn als Zivilisationstheoretiker vor – einen Theoretiker, der sich eben vor allem des Mediums des Stichs bediente.

Die römischen Altertümer, Dreh- und Ankerpunkt von Piranesis Schaffen, fand dieser vor allem in der Stadt Rom selbst vor. Sie dienten ihm mal als Grundlage von (aus heutiger Sicht ahistorischen) Rekonstruktionsversuchen, mal als Ausgang für phantastische eigene Entwürfe, mal zeigte er sie als Ruine. In den Worten Heinrichs hat die Stadt Rom für Piranesi insofern »repräsentativen ­Charakter, als sie nicht nur als reale Stadt, sondern als Gattungshauptstadt gemeint ist«.

 

Klaus Heinrich, Berlin, November 1982
Klaus Heinrich, Berlin, November 1982 (Quelle: Wikimedia / Klaus Baum / CC BY-SA 4.0)

 

Heinrich sucht in den Stichen Zugang zu den der Architektur eingeschriebenen verdrängten Schichten der Zivilisationsgeschichte. Dafür stehen insbesondere Piranesis Darstellungen des »Zivilisationsgerümpels«, des »Zivilisationsschutts«, der »Trümmer« und der riesigen Sub­struktionen – ein Begriff für die mächtigen antiken architektonischen Unterbauten wie Gewölbeabstützungen, die eine prominente Rolle in vielen der Stiche spielen. Hier werden eben nicht allein die prächtigen Bauten gezeigt, sondern zum Beispiel auch Geräte und Werkzeuge, was in Heinrichs Worten zu Folgendem führt: »Die Stadt, die Tradition, die Zivilisation, die ihre Gebrochenheit nicht nur aushält, sondern auch zur Schau stellt, schützt sich gerade dadurch gegen das Verdrängen und auf diese Weise gegen das Zerbrechen.« Die Stiche haben keinen romantischen Anklang, wollen nichts verstecken, was Heinrich sogar so radikal auslegt, dass er die Ruine als »Provokation« fasst.

Gegen den Neubau des Berliner Stadtschlosses

Heinrichs Bemerkungen gewinnen gerade hinsichtlich der Debatten über (vermeintlich) historisch-rekonstruierende Architektur in deutschen Innenstädten wieder an Bedeutung. Er selbst sprach sich beispielsweise gegen den Neubau des Berliner Stadtschlosses aus. In der Nachfolge Piranesis stelle sich der Architektur die Aufgabe, den dialektischen Charakter der Zivilisationsgeschichte in sich aufzuheben – und diese Geschichte nicht historisierend zu verschleiern.

Im Historismus und in seiner Zuspitzung, der gewaltigen NS-Architektur von Albert Speer, tritt, so Heinrich, ein geschichtsloser Bezug auf die Vergangenheit an die Stelle solcher Aufklärungsversuche. In Projekten wie dem Berliner Stadtschloss oder der Frankfurter Neuen Altstadt geht die Geschichte mit ihren Brüchen in einem künstlichen Ästhetizismus unter, der gerade in Deutschland auch oft den Bruch, den die Niederlage im Zweiten Weltkrieg darstellt, verschleiert.

Den spätbarocken Piranesi als Aufklärer zu verstehen – der gerade auch in den phantastischen Kerkerstichen die gewaltsame Seite des ­Zivilisationsprozesses nicht unterschlug –, ist für Heinrich Teil eines Projekts, der »Architektur ein Bewusstsein ihrer selbst« zu geben. Damit wird sie eingeordnet in sein größeres Programm einer psychoanalytisch fundierten Selbstaufklärung der Gesellschaft. In dieses führen die Vorlesungen über Piranesi besonders anschaulich ein. Die Bildbetrachtungen Heinrichs sind anregend und es macht – nicht zuletzt dank der technischen Umsetzung der beiden Bände – Freude, Heinrichs Gedanken an den Stichen selbst nachzuvollziehen.

Klaus Heinrich: Giovanni Battista Piranesi. Dahlemer Vorlesungen: Zum Verhältnis von ästhetischem und transzendentalem Subjekt. Herausgegeben von Nikolaus Kuhnert und Anh-Linh Ngo. Ça-ira-Verlag in Kooperation mit der Architekturzeitschrift »Arch+«, Freiburg/Berlin 2024, 216 Seiten, 28 Euro