Noch immer gibt es keinen aktiven deutschen Profifußballer, der offen schwul lebt

Ende des Versteckspiels

Am internationalen Tag gegen Homophobie wollen sich mehrere Fußballspieler outen.

Es gibt in Deutschland über 800 aktive Profifußballer, aber keinen einzigen Spieler, der offen schwul lebt. Folgt man dem ehemaligen Nationalspieler Mario Basler, ist das Rätsel schnell gelöst: »Es gibt keine schwulen Fußballer«, behauptete er 2008. Statistiken zur demographischen Häufigkeit von Homosexualität hingegen legen freilich das Gegenteil nahe. Demnach wäre von 80 bis 120 schwulen Fußballspielern in den deutschen Profiligen auszugehen. Dennoch haben sich in 61 Jahren Bundesliga bislang erst zwei Spieler zu ihrer Homosexualität bekannt; beide nach ihrer aktiven Zeit.

Am internationalen Tag gegen Homophobie, dem 17. Mai, könnte das Versteckspielen für einige Spieler nun ein Ende nehmen.

Ein Sportpsychologe, der homosexuelle Fußballprofis berät, sagte der Fußballzeitschrift Rund vor knapp 20 Jahren, er wisse, dass schwule Spieler »für sich nur die Wahl sehen, ein Versteckspiel zu führen und ihre Homosexualität zu vertuschen«. Das aber stelle eine »erhebliche psychosoziale Belastung« dar. Spieler berichteten von Alibibeziehungen, um den Schein zu wahren. Bis heute scheint sich daran wenig geändert zu haben. »Es geht um Ängste davor, Ablehnung und Ausgrenzung zu erfahren sowie die eigene Karriere zu gefährden«, sagt der Sportpsychologe Martin Schweer der Jungle World.

Am internationalen Tag gegen Homophobie, dem 17. Mai, könnte das Versteckspielen für einige Spieler nun ein Ende nehmen. Mit der Kampagne »Sports Free« bereitet der ehemalige DDR-Jugendnationalspieler Marcus Urban derzeit ein großangelegtes Coming-out auf einer digitalen Plattform vor. Er selbst hatte sich 2007 als erster deutscher Fußballer vor breiter Öffentlichkeit geoutet – 15 Jahre nach seiner Karriere, die ihn aber nie in Profigefilde geführt hatte. Über die Plattform können sich alle outen, die entweder selber spielen oder direkt in der Teambetreuung arbeiten. Der 17. Mai ist nur der erste mögliche Termin. Anschließend soll es jeweils zum 17. jedes Monats möglich sein. Zusätzlich ist ein Dokumentarfilm geplant, der die Spieler individuell begleitet. Personen aus Österreich, Deutschland und England wollen sich Urban zufolge outen.

Coming-out individuell gestalten

Seit vielen Jahren arbeitet Urban bereits an dem Projekt. Es wäre nicht der erste Versuch. »Bislang sind sie immer gescheitert«, so Urban im Gespräch mit T-Online, »weil sich die Spieler uneinig waren oder einige Angst hatten.« Auch die jährlich zwei Transferphasen können einem Coming-out entgegenstehen. Denn unter einem solchen könnte die internationale Vermarktung der Profis leiden.

»Der Fußball ist immer noch stark männlich, sexistisch und kapitalistisch geprägt. Daran sind Erwartungen geknüpft. Abweichungen davon lenken ab und sind nicht gut fürs Geschäft«, sagt Christian Rudolph vom Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) der Jungle World. Er leitet die Anlaufstelle »Team Out and Proud«, einem gemeinsamen Projekt des LSVD und des DFB, das sich für die Rechte und Interessen von LGBT im Fußball einsetzt. Es ist durchaus möglich, dass Managements in Vereinen und Verbänden ihren Spielern von einem Coming-out abraten, weil sie sonst womöglich nicht mehr in bestimmte Länder verkauft werden könnten.

Zwar kann auf der digitalen Plattform jeder sein Coming-out individuell gestalten. Es ist aber bewusst in der Gruppe geplant. Die Aufmerksamkeit soll auf mehrere Sportler gelenkt werden, denn das voyeuristische Interesse wird groß sein. Sportpsychologen und Beratungsstellen raten Spielern davon ab, alleine und ungeplant von ihrer Homosexualität zu berichten. Da sich noch kein aktiver deutscher Profi geoutet hat, sind die Reaktionen zwar im Einzelnen nicht absehbar. Gewiss aber würde derjenige, der es tut, von Talkshow zu Talkshow weitergereicht werden.

»Fußball spielen können Schwule vielleicht, aber ich glaube nicht, dass sie hart genug sind, um im Profigeschäft zu bestehen.« Paul Steiner, früherer Bundesligaspieler, Anfang der Neunziger

Im Oktober 1990 outete sich der englische Profi Justin Fashanu als erster aktiver Profi weltweit. 80.000 Pfund hatte ihm die Boulevardzeitung The Sun dafür geboten. Auch in Deutschland wurde sein Outing thematisiert. Darauf angesprochen sagte der damalige Kölner Bundesligaspieler Paul Steiner: »Fußball spielen können Schwule vielleicht, aber ich glaube nicht, dass sie hart genug sind, um im Profigeschäft zu bestehen.« Der Düsseldorfer Michael Schütz setzte noch eins drauf: »Man würde gegen so einen nicht so rangehen, weil eine gewisse Furcht vor Aids da wäre.« Acht Jahre später nahm sich Fashanu das Leben. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: »Schwul und eine Person des öffentlichen Lebens zu sein, ist hart.«

Gewiss hat sich seitdem einiges geändert. Und dennoch hat es 28 Jahre gedauert, bis sich wieder ein Profi während seiner aktiven Karriere outete: 2018 bekannte sich der US-Amerikaner Collin Martin zu seiner Homosexualität – nachdem ihn ein Date erpresst hatte, damit an die Öffentlichkeit zu gehen.
Dennoch sei es bei einem Coming-out entscheidend, »wie das persönliche Umfeld, der Verein und die Fanszene erlebt werden – inwieweit also mit Respekt und Unterstützung zu rechnen ist«, so Schweer. Zwar gibt es immer mehr Aktionen gegen Homofeindlichkeit, schwulenfeindliche Äußerungen auf dem Fußballplatz sind aber weiterhin keine Seltenheit. Erst im vergangenen Jahr machte der damalige Wolfsburger Felix Nmecha mit solchen von sich reden. Er stand gerade kurz vor seinem Transfer zu Borussia Dortmund, was verschiedene Faninitiativen zu verhindern versuchten.

Verständliche Angst

Die Intervention blieb erfolglos. Und dennoch: »Der BVB (Borussia Dortmund; Anm. d. Red.) macht in den vergangenen zehn bis 15 Jahren viel im Bereich der Antidiskriminierungsarbeit«, sagt Matthias von der Initiative »ballspiel.vereint!« der Jungle World. Die Initiative war wegen des Transfers mit dem Verein in Kontakt. Er ist sich sicher, dass diejenigen, die sich um Antidiskriminierungsarbeit kümmern, es aus Überzeugung tun. Es gehe ihnen nicht nur darum, »die Marke zu stärken«. Zudem hätten homofeindliche Sprüche in den Fankurven Dortmunds stark abgenommen.

Immer wieder heißt es, dass die Fans diesbezüglich weiter wären als etwa die Vereine und Verbände. Auch Sven Kistner von Queer Football Fanclubs, einem Netzwerk europäischer schwul-lesbischer Fanclubs, geht nicht von negativen Reaktionen auf den Rängen aus. Die latente Angst der Spieler kann er dennoch verstehen. »Das ist ja deren Broterwerb«, sagt er der Jungle World. Gemeinsam mit anderen, nicht LGBT-spezifischen Fanorganisationen plane man gerade eine Solidaritätsaktion, die den Spielern Mut machen soll. Auch im Funktionärsbereich rechnet er nicht mit großen Schwierigkeiten.

»Natürlich sind alle dabei und unterschreiben etwas, wo draufsteht: Wir sind für Vielfalt im Fußball«, kritisiert die ehemalige Bundesligaspielerin Tanja Walther-Ahrens im Gespräch mit der Jungle World. »Aber die Frage ist, ob ich das auch lebe und umsetze.« Sie engagiert sich seit Jahrzehnten gegen Homophobie im Fußball. Der Fall Nmecha sei ein gutes Beispiel dafür, dass die Vereine vielfach nicht mehr als Symbolik betrieben. Ihr fehlt es an merkbaren Reaktionen auf homofeindliche Äußerungen auf dem Spielfeld und klareren Sanktionen. Wenn schwule Spieler erleben müssten, dass solche Äußerungen zum Alltag gehören und auch unbestraft bleiben, falle ein Coming-out selbstverständlich schwer. »Da hilft auch nicht die 20. Hochglanzbroschüre, in der man das alles nochmal thematisiert.«

Problem mit Diversität

Auch Christian Rudolph vom LSVD sieht hierin ein Pro­blem. Noch immer werde »zu häufig bei Diskriminierung ein Auge zugedrückt, oder gerne auch mal beide«, wenn ein Spieler für den Erfolg wichtig erscheine. Insbesondere für den Nachwuchs seien das die falschen Signale. »Im Jugendbereich haben wir die Möglichkeit, zu entscheiden, mit welchem Selbstverständnis junge Menschen aufwachsen.« Nachwuchstrainerinnen und -trainer beispielsweise haben eine besondere Verantwortung, da sie erheblich zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen können.

»Die Verbände haben ein krasses Problem nicht nur mit Homosexualität, sondern mit Diversität«, meint Walther-Ahrens. Ihrer Meinung nach lässt sich das Problem nicht unabhängig von weiterhin verbreiteten starren Rollenbildern betrachten. »Deswegen wird auch Frauenfußball nach wie vor so belächelt. Wir spielen ja keinen Fußball, wir spielen Frauenfußball.« Ihre Töchter bekämen heute noch zu hören, dass sie nicht mitspielen dürften, weil sie Mädchen seien – Sprüche, die sie selbst bereits vor 50 Jahren zu hören bekommen habe.

»Es geht weniger um das Coming-out als darum, eine Atmosphäre zu verändern.« Tanja Walther-Ahrens, ehemalige Bundesligaspielerin

Und auch in den führenden Positionen mache sich bemerkbar, wie wenig ernst man es mit der vielbeschworenen Vielfalt tatsächlich meine. »Schauen Sie sich mal die Vereine und Verbände an und nennen Sie mir welche, die von Frauen geleitet werden.« Das Problem liege in Strukturen, die es seit jeher gebe und von denen man nicht abrücken wolle. Walther-Ahrens meint: »Es geht weniger um das Coming-out als darum, eine Atmosphäre zu verändern.« Auch sie sieht im Jugendsport die Möglichkeit, für eine Veränderung zu sorgen und mit gängigen Klischees zu brechen.

Denn Klischees halten sich im Fußball standhaft. Selbst als David Beckham sich damals dazu bekannte, die Unterwäsche seiner Frau zu tragen, standen weder seine Heterosexualität noch seine Männlichkeit in Frage. Als Fußballer blieb er ganz Mann: stark, kampferprobt, einsatzfreudig. Marion Müller hat zu Geschlecht und Fußball geforscht und mit der Jungle World darüber gesprochen. Ihr zufolge hat zwar die Häufigkeit und Intensität von Körperberührungen im Fußball in den vergangenen 60 Jahren zugenommen.

Sich nicht weiter verstecken müssen

Bis in die siebziger Jahre hätten die Spieler Tore noch mit einem Handschlag oder Schulterklopfen bejubelt. Seit Beginn der neunziger Jahre werde zunehmend geküsst, umarmt und auf den Hintern geklopft. Aber auch hierbei werde die Heterosexualität und damit die konventionelle Männlichkeit nicht in Frage gestellt. Der enge Körperkontakt erscheine nicht als Ausdruck sexueller Intimität. Die Spieler vermieden dabei den Blickkontakt, um, so Müller, sowohl dem Gegenüber als auch dem Publikum zu verdeutlichen, dass ihre Freude nicht der Person, sondern dem Ereignis gilt.

Allzu verständlich ist der Wunsch, sich nicht weiter verstecken zu müssen und mit der gleichen Normalität und Unbekümmertheit leben zu dürfen wie die heterosexuellen Kollegen. Weltweit haben sich in der Geschichte des Profifußballs nur sieben aktive Spieler zu ihrer Homosexualität bekannt.

Letztlich geht es allerdings weniger um die Frage, welcher Spieler schwul ist, als die Frage, warum sie es nicht einfach sein können. Noch vor zwei Jahren urteilte der Fifa-Schiedsrichter Igor Benevenuto nach seinem Outing, dass der Fußball »eine der feindlichsten Umgebungen für einen Homosexuellen« sei.