Unser Freund, der Oberst

Eines wird man Muammar al-Gaddafi zugestehen müssen: Er hat sein »Grünes Buch« selbst geschrieben. Ein anderer wäre wohl auch nicht auf die Idee gekommen, ein vornehmlich aus Banalitäten (»Es ist eine unumstrittene Tatsache, dass Männer und Frauen menschliche Wesen sind«) bestehendes und mit rassis­tischen Bemerkungen (»die Schwarzen, die in einem immer heißen Klima träge sind«) durchsetztes Pamphlet als »Führer für die ganze Menschheit« zu bezeichnen. Es hätte nicht einmal für einen Doktortitel an der Univer­sität Bayreuth gereicht. Ehrendoktortitel aber hat der Oberst und »Revolutionsführer« erhalten, einen von der privaten Megatrend University in Belgrad und einen vom Technology College in Tunis. Er selbst ließ seinem Freund, dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, im vergangenen Jahr einen Ehrendoktortitel der Academy of Higher Education in Tripolis zukommen. Chávez revanchierte sich mit einem Lob: »Was Simon Bolivar für das venezolanische Volk ist, ist Muammar al-Gaddafi für das libysche Volk. Er ist der Befreier Libyens.«
Doch nicht nur die üblichen Verdächtigen behandelten Gaddafi wohlwollend. Er durfte auch in westlichen Städten sein Zelt aufschlagen. Nur in New York musste er ein Hotelzimmer beziehen, weil die Stadtverwaltung das Campieren als Verstoß gegen die Bestimmungen zur Grundstücksnutzung betrachtete. Den Beziehungen hat das nicht geschadet. »Im Geschäftsjahr 2010 verzeichnete Siemens in Libyen bedeutende Erfolge«, teilt der Konzern mit, der auch in diesem Land zu »einer zukunftsfähigen gesellschaftlichen Entwicklung« beiträgt. Man war nicht so dogmatisch, auf die Abkehr Gaddafis vom Terrorismus zu warten: »1972 eröffnete Siemens seine erste Vertretung im Land.« Andere zierten sich länger, doch seit Gaddafi der »antiwestlichen« Außenpolitik entsagt hat, drängeln sich Politiker und Geschäftsleute vor seinem Zelt. Streng genommen hat Gaddafi nur der Finanzierung von Terroranschlägen und der Herstellung von Massenvernichtungswaffen entsagt, »antiimperialistische« Phrasen hat er weiterhin gedroschen. Betrachtet man die »internationale Gemeinschaft« als eine Familie, so ist Gaddafi der verrückte, reiche Onkel, den man hinter seinem Rücken auslacht, aber zu jeder Feier einlädt, seit man nicht mehr befürchten muss, dass er auf dem Weg Passanten verprügelt. Wie er daheim mit seinen Kindern verfährt, möchte man gar nicht so genau wissen. Aber man schätzt ihn, weil er die ungezogenen Nachbarlümmel davon abhält, über den Gartenzaun zu klettern. Gaddafis Drohung, die Ausreise von Flüchtlingen nicht mehr zu verhindern, verurteilte Werner Hoyer, der Staatsminister im Auswärtigen Amt, als »unglaub­liche Entgleisung«. Anders als in den Reaktionen auf die Ermordung Hunderter Demonstranten wird hier echte Empörung spürbar.