Melanie Möller streitet mit ihrem Buch »Der* ent_mündigte Lese:r« vorgeblich für die Freiheit der Literatur

Die Axt im Wald der Cancel Culture

Melanie Möllers Streitschrift für die Freiheit der Literatur verteidigt einen Begriff von Mündigkeit, der von ästhetischer Erfahrung genauso wenig weiß wie diejenigen, die sie attackiert.

Das neueste Pamphlet gegen Cancel Culture und politisch korrekte Sprachreinigung trägt als Motto ein längst zum Gassenhauer heruntergebrachtes Zitat Franz Kafkas, das aus einem 1904 geschriebenen Brief des Autors an dessen Schulfreund Oskar Pollak stammt. Darin heißt es: »Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? (…) Wir brauchen (…) die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück (…), wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.«

Das klingt radikal, und jeder sich authentisch-kunstsinnig Dünkende wird es abnicken, ohne darüber nachzudenken, dass Kafka, als er die Zeilen schrieb, gerade 20 Jahre alt war und sein schriftstellerisches Leben noch weitgehend vor sich hatte; ein paar Jahre später hätte er sich derlei primanerhafte Existentialismen ebenso wenig durchgehen lassen wie die vom Biss über den Faustschlag zum Axthieb verrutschende Metapher. Gerade wegen seines existentialistischen Pathos aber ist das Zitat heutzutage beliebt. Dass große Literatur ihre Leser provozieren, Erwartungen stören und Stereotype dekonstruieren müsse, gehört zum schlechten common sense eines sich zuverlässig progressiv fühlenden Kunstbetriebs.

Der polemisch gemeinte Titel von Möllers Buch macht deutlich, dass die Autorin sich an solch verhunzter Sprache vor allem deshalb stört, weil sie ihr lästig ist – eben wie dem mündigen Bürger die Geschwindigkeitsbeschränkung auf der Autobahn.

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