Kontroverse Diskussionen um das Für und Wider eines zeitigen Tagesbeginns

Pro und Contra Frühaufstehen

Was haben Jennifer Lopez, Mark Zuckerberg und Michelle Obama gemeinsam? Diese Superreichen zählen sich zum sogenannten 5am Club, einer wachsenden, losen Gemeinschaft von Frühaufstehern. Benannt wurde sie nach dem 2018 erschienenen gleichnamigen Buch von ­Robin Sharma, der sich als Dozent und Mentor für Lebenszufriedenheit vermarktet. Ihm zufolge bringe früheres Aufstehen Glückseligkeit, aber auch ­einen kleinen zeitlichen Vorsprung vor den Mitmenschen. Andere ­schlafen lieber aus.

Herrlicher Sonnenaufgang

Wer früh aus dem Bett steigt, wird oft verdächtigt, das aus besonderer Disziplin und Leistungsbereitschaft zu tun. Doch die frühen Morgen­stunden können auch einfach ein kleines Zeitfenster persönlicher Freiheit sein, die man dem Arbeitsalltag abtrotzt.

Von Jan Tölva

Der Mensch ist ein Tier, ein ziemlich außergewöhnliches zwar, aber dennoch ein Tier. Und als tagaktives Tier braucht er Sonnenlicht. Es spielt eine essentielle Rolle bei der Synthese von Vitamin D, es beeinflusst die Produktion des Neurotransmitters Serotonin und es hilft, den zirkadianen Rhythmus zu steuern, der wichtig für einen gesunden Schlaf ist.

Selbstverständlich kann man auch Vitamin D über die Nahrung oder über Nahrungsergänzungsmittel aufnehmen. Mit der Droge MDMA kann man den Körper zur Ausschüttung von Serotonin bewegen – wenn auch nicht unbegrenzt – und mittels künstlicher Lichtquellen kann man versuchen, den Schlafrhythmus zu beeinflussen.

Augenringe und K-Hole sind auch nichts anderes als Eightpack und »skin glow«, Technoclub und Yogastudio sind zwei Seiten derselben beschissenen Medaille.

Man kann aber auch einfach den Wecker stellen und früh aufstehen, anstatt, wann immer die Lohnarbeit es zulässt, bis mittags durchzuschlafen. Das hat auch noch andere Vorteile. Zum Beispiel kann man den Vögeln bei ihrem frühmorgendlichen Gesang zuhören. Gleich mehrere Studien, unter anderem eine vom Londoner King’s College, sind zu dem Schluss gekommen, dass es glücklicher macht und sich positiv auf die psychische Gesundheit auswirkt, Vögeln beim Singen zuzuhören. Steht man früh auf und geht raus, sind die Brötchen beim Bäcker noch warm, die Straßen noch leer und man erwischt auch noch den frühen Regionalzug zur Antifademo in der Provinz.

Sicher, man erntet unweigerlich argwöhnische Blicke, wenn man freiwillig früh aufsteht, und das ist durchaus verständlich. Immerhin haben ganze Heerscharen unsympathischer und sehr unsympathischer Lifestyle-Gurus und Influencer:innen alles dafür getan, das Frühaufstehen in Verruf zu bringen, indem sie es mit Untugenden wie Disziplin und Leistungsbereitschaft in Verbindung gebracht haben. All die Sonnengrüße und Morning-Detox-Getränke, all die Selbstoptimierung und der Körperkult sind selbstverständlich von Grund auf abzulehnen.

Wer sich an den Markt, egal ob den Arbeits- oder den Dating-Markt, bis zur Selbstaufgabe anpasst, wer mehr an der eigenen Verwertbarkeit und fuckability arbeitet als daran, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, hat die Kontrolle über sein Leben verloren und benötigt dringend Hilfe.

Dieses Problem besteht jedoch gänzlich unabhängig von Wochentag und Tageszeit. Tatsächlich sind sogar das Feiern und der Exzess zu einem Wett­bewerb verkommen, bei dem gewinnt, wer am härtesten eskaliert. In diesem Sinne sind Augenringe und K-Hole auch nichts anderes als Eightpack und skin glow. Technoclub und Yogastudio sind zwei Seiten derselben beschissenen Medaille.

Das heißt nicht, dass Techno oder Yoga an sich schlecht wären. Es heißt nur, dass der Kapitalismus wie ein umgekehrter König Midas alles zu Scheiße macht, was er berührt. Das richtige, das gute, das süße Leben, es ist immer nur erkauft. In der Regel wortwörtlich.

Wenn all das tatsächlich Erstrebenswerte am Nachtleben nur in der Nacht zu haben ist, dann in den meisten Fällen deshalb, weil die Arbeitswelt es in die Randstunden von Tag und Woche gedrängt hat. Das gilt für Sex und Drogen genauso wie für Tanzen und für intensive Gespräche mit Menschen, die uns wichtig sind, und sei es nur für den Moment.

Durch diese Verdrängung ins Halbdunkel wird all das, was Lust und Freude bereitet, kontrollierbarer, weil es den Produktionsprozess nicht durcheinanderbringt. Arbeit und Freizeit ­sollen strikt getrennt voneinander sein, und falls nicht, soll die Arbeit die Freizeit kolonisieren und nicht umgekehrt.
Früh aufzustehen, bedeutet, sich den Tag zurückzuholen. Jede Minute, die bleibt, bevor man zur Arbeit muss oder bevor die Kinder nach Aufmerksamkeit verlangen, ist eine Minute, die einem selbst gehört, ein kleines Stück befreiter Zeit.

Als Hegel die Französische Revolution beschrieb, sprach er von »Morgenröte« und von einem »herrlichen Sonnenaufgang«. Er sprach nicht von Vollmond oder Mittagshitze oder spätem Nachmittag. Jeder Morgen ist ein Versprechen. Man muss nur rechtzeitig auf­stehen, um es anzunehmen.

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Geh weg, Frühaufsteherdiktatur!

Die Frühaufstehergemeinschaft ist eine Sekte auf Missionierungskurs. Weil es als besonders leistungsbereit und diszipliniert gilt, den Tag bereits früh zu beginnen, wähnen sich die Vertreter dieser Praxis moralisch überlegen.

Von Elke Wittich

Sie könnte einem egal sein, die allerorten grassierende Selbstoptimiererei. Schließlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Menschen gern fitter, gesünder, leistungsfähiger, dünner, muskulöser, schöner werden wollen – außer vielleicht, dass intelligenter oder wenigstens gebildeter zu sein in den Plänen der Egoverbesserer und -verbesserinnen selten vorkommt. Aber vielleicht ist es auch lobenswert, immerhin in der Lage zu sein, die eigenen Grenzen zu erkennen.

Wie es aber immer so ist mit Sekten, zumal missionierenden, kann natürlich auch das Optimierungswesen nicht einfach still in der Ecke oder im Fitnessstudio sitzen und tun, was es eben so tut, sondern muss beständig anderen auf die Nerven gehen. So derzeit mit der Frühaufsteherei, was ein wirkliches Elend ist, denn es existiert eine regelrechte »Im Morgengrauen aufstehen«-Querfront, der kein Argument zu dämlich ist, sich in anderer Leute Schlafrhythmen einzumischen.

Niemand käme auf die Idee, jemanden, der motorisch äußerst ungeschickt ist, in einen Beruf zu zwingen, in dem hochpräzise per Hand winzige Teile zusammen­gefrickelt werden müssen.

Alle würden nämlich, so das Argument, davon profitieren, wenn endlich allgemein früh aufgestanden würde. Die Umwelt, die Ökonomie, das Zusammenleben, alle. Nur eben diejenigen, die Nachteulen sind, nicht, aber sollen die sich halt zusammenreißen. Denn wer nachts wach ist, statt früh aufzustehen, leidet offenbar an Willensschwäche oder tut dies vielleicht auch aus persönlicher Bosheit heraus. Jedenfalls handelt es sich dabei um ein Verhalten, das in den Augen der Sektenanhänger verändert gehört.

Und so dürfen Menschen mit dem Hang zum Ausschlafen nach Herzenslust diskriminiert und verunglimpft und benachteiligt werden. Niemand zum Beispiel käme auf die Idee, jemanden, der motorisch äußerst ungeschickt ist, in einen Beruf zu zwingen, in dem hochpräzise per Hand winzige Teile zusammengefrickelt werden müssen. Oder jemanden, der eine Pollenallergie hat, zwangsweise als Gärtner zu verpflichten. Leuten, die qua Chronotyp Nachteulen sind, dürfen Ämter, Arbeitgeber und wer gerade sonst noch Lust dazu hat aber völlig problemlos vorschreiben, dass sie morgens zu einstelligen Uhrzeiten wach und in den folgenden Stunden leistungsbereit zu sein haben.

Und das ist ein Skandal. Vor allem, weil es keinen relevanten Widerstand dagegen gibt. Keine Partei, keine Massenbewegung, die für das Menschenrecht auf Ausschlafen kämpft, und natürlich auch keine Aussicht auf eine Revolution, die Zeitnormen und zu frühes Wecker­klingeln hinwegfegt und den Traum von einer Gesellschaft verwirklicht, in der alle gleich ausgeschlafen sind, nur halt zu verschiedenen Uhrzeiten.

Normalerweise kommen an diesem Punkt diejenigen angewackelt, die ­immer und überall jedes auftauchende gesellschaftliche Problem mit der Abwesenheit des Kommunismus erklären. Wenn der nämlich endlich realisiert würde, so erklären sie dann, wäre sozusagen das Paradies erreicht und alle könnten ungehemmt glücklich sein. Bis auf, so lehrt es jedenfalls die Erfahrung mit diversen realen Sozialismusversuchen, die Langschläfer und Langschläferinnen, die notorisch zum Frühaufstehen und dann in irgendwelche blöden Jobs gezwungen wurden.

Womit wir zur Frage kommen, warum das immer alles so weitergeht und niemand ein schlechtes Gewissen dabei hat, Nachteulen zu frühmorgendlichen Konferenzen und ähnlichen Zumutungen zu verdonnern. Man weiß es nicht, lautet eine der Antworten; weil es halt immer so war, eine weitere. Und weil Frühaufsteher sich als moralisch überlegen empfinden, und wer moralisch überlegen ist, hat natürlich nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, andere auf den leuchtenden Pfad der Erkenntnis zu führen, notfalls mit Gewalt beziehungsweise mit gesellschaftlich anerkannten frühmorgendlichen Ruhestörungen wie Bauarbeiten, Mülltonnengerassel und was dergleichen Widerwärtigkeiten mehr sind.

Vielleicht macht sich endlich mal jemand daran, den ultimativen Selbst­optimierungstrend zu erfinden: andere Leute in Ruhe zu lassen. Dazu müsste selbstverständlich auch gehören, Rücksicht auf die Bedürfnisse von Langschläfern zu nehmen, immer und überall. Das wäre allerdings richtig Arbeit, denn es würden jede Menge ­gesellschaftliche Umwälzungen dazu gehören, denn selbstverständlich wäre es erforderlich, dass zum Beispiel Öffnungszeiten endlich auch an Nachteulenbedürfnisse angepasst würden. Das wird schön. Beziehungsweise würde schön sein, aber vermutlich wird das immer eine Utopie bleiben. Außer die Frühaufsteherdiktatur kommt von selber ganz ohne blutigen Umsturz, der mit Leuten, die gern ausschlafen, ohnehin schwer zu machen wäre, zur Vernunft und geht weg. Man kann ja träumen.