In Großbritannien sagen Umfragen den Konservativen eine deutliche Wahlschlappe voraus

Von rechts überholt

Kurz vor den Wahlen zum britischen Unterhaus steuern die regierenden Konservativen auf eine herbe Niederlage zu. In Wahlumfragen steigen die Zustimmungswerte für die rechtspopulistische Partei Reform UK nahezu wöchentlich.

Die britischen Konservativen sind kurz davor, das schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte zu kassieren. Selbst in den für sie vorteilhaftesten Umfragen kurz vor den Parlamentswahlen am 4. Juli erreichen die Konservativen möglicherweise nur noch 155 der 650 Sitze im Unterhaus; im Augenblick verfügt die Partei über 344 Sitze.

Nichts scheint derzeit zu klappen für Premierminister Rishi Sunak, dessen Wahlkampagne darauf zielt, dass die Wähler den Konservativen eher in Fragen von Steuern und Inflation vertrauen könnten als der Labour-Partei von Oppositionsführer Keir Starmer, dem er vorwirft, enorme Steuererhöhungen zu planen. Die Briten sollten nach vorne schauen, so Sunak, und nicht auf die vergangenen 14 Jahre, in denen die Konservativen regierten. Von den Resultaten dieser langen Regierungszeit möchte sich der Premierminister gerne distanzieren.

Am meisten zu profitieren von der Schwäche der Tories scheint die Partei Reform UK von Nigel Farage, die die Nachfolge der Brexit Party und der Anti-EU-Partei United Kingdom Independence Party (Ukip) angetreten hat.

In der vorigen Woche wurde bekannt, dass mehrere konservative Kandidaten und Parteifunktionäre in ­Verdacht stehen, ihr Insiderwissen um den Wahltermin, der für die meisten Beobachter überraschend kam, genutzt zu haben, um Geldwetten abzuschließen. Nach Skandalen um die Vergabe von Aufträgen im Rahmen der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie und dem routinemäßigen Bruch von Regeln zum Infektionsschutz durch Mitglieder der Regierung des ehemaligen Premierministers Boris Johnson erscheinen die Konservativen als im Kern korrupt.

Am meisten zu profitieren scheint davon die Partei Reform UK von Nigel Farage, die die Nachfolge der Brexit Party und der Anti-EU-Partei United Kingdom Independence Party (Ukip) angetreten hat, die seit den frühen nuller Jahren die Konservativen von rechts unter Druck setzen. Farage, der sich eine Weile zurückgezogen hatte, um in dieser Zeit unter anderem Präsidentschaftskandidat Donald Trump in den USA zu unterstützen, sitzt Reform UK vor und kandidiert selbst im küstennahen Wahlkreis Clacton-on-Sea im südostenglischen Essex, einer der wenigen echten Hochburgen der Partei.

Vergangene Woche stellte Farage das Wahlprogramm von Reform UK vor, das die Partei als »Unser Vertrag mit Ihnen«, also den Wählern, bezeichnet. Darin verspricht die Partei signifikante Steuersenkungen – die Steuerfreibeträge sollen nahezu verdoppelt werden – und eine Reduzierung der Körperschaftssteuer von derzeit 19 bis 25 Prozent auf 15 Prozent, was den Staat ins­gesamt 90 Milliarden Pfund kosten würde. Gleichzeit soll der Nationale Gesundheitsdienst NHS 17 Milliarden Pfund im Jahr zusätzlich bekommen. Reform UK verspricht, dass es innerhalb von zwei Jahren keine Wartelisten für Operationen mehr geben soll.

Typisch rechtspopulistische Themen

Finanziert werden sollen demnach die Einnahmeausfälle in Höhe von jährlich über 150 Milliarden Pfund durch Einsparungen bei den Sozialausgaben – auf welche Weise, wird nicht näher ausgeführt – und durch eine neue indirekte Abgabe für Banken, die nicht länger von Zinsen für Geld profitieren sollen, das sie bei der Notenbank hinterlegt haben. Diese Idee stammt eigentlich von linken Ökonomen. Auch das renommierte Institute for Fiscal Studies sieht dies als eine »respektable Idee« an, bezweifelt aber, dass der Staat hier 35 Milliarden Pfund einnehmen kann, wie es Reform UK verspricht.

Ansonsten konzentriert sich deren Programm auf typisch rechtspopulistische Themen, insbesondere mit dem Versprechen einer net zero migration, von der es indes Ausnahmen geben soll, wenn in bestimmten Sektoren wie dem Gesundheitswesen akuter Arbeitskräftemangel besteht. Reform UK will allerdings die Arbeitgeberabgaben zur Sozialversicherung für ausländische Beschäftigte bedeutend erhöhen (von derzeit 13,8 auf 20 Prozent).

Reform UK fordert zudem, dass Großbritannien aus der Europäischen Menschenrechtskonvention austreten soll, um schnelle Abschiebungen und Pushbacks zu ermöglichen. Alle Asylsuchenden, die dennoch durchkommen, sollen bis zur Abschiebung inhaftiert werden. Insbesondere bei diesem Punkt sind die Konservativen politisch verwundbar. In der Debatte über den Austritt Großbritanniens aus der EU hatten die Konservativen versprochen, die »britischen Grenzen unter nationale Kontrolle zu bringen«. Die Zahlen von Geflüchteten und Asylsuchenden sind in den vergangenen Jahren signifikant gestiegen, ebenso wie die der legalen Migranten.

Farage provoziert mit Ukraine-Äußerung

Die Konservativen arbeiten seit Jahren an ihrem Plan, Asylsuchende nach Ruanda auszufliegen, während ihre Anträge bearbeitet werden. Die Maßnahme soll vor allem abschreckende Wirkung haben auf die Asylsuchenden, die ohne Papiere über den Ärmelkanal nach Großbritannien kommen wollen. Während diese Idee auch in der EU ­zunehmend populär wird, stößt sie immer wieder auf rechtliche Grenzen. Bisher konnten die Konservativen sie nicht umsetzen.

Labour lehnt die Pläne mit Ruanda hingegen ab und will stattdessen mit den Nachbarländern auf der anderen Seite des Ärmelkanals, vor allem Frankreich und Belgien, besser zusammenarbeiten. Auch direkte Abkommen mit Herkunftsländern über die Rückführung von Asylsuchenden, wie es die Konservativen mit Albanien bereits realisiert haben, werden von Labour als sinnvoller angesehen als das teure und mit internationalem Recht kaum zu vereinbarende Ruanda-Vorhaben.

In der Außenpolitik, die von Labour sowie Konservativen kaum thematisiert wird, hat Farage Anfang vergangener Woche einen bewusst provokanten Akzent gesetzt. In einem Interview sagte er, dass die Nato und westliche Staaten durch ihre Expansion in den Osten den Krieg in der Ukraine mitzuverantworten hätten. Zwar sei die russische Invasion nicht zu rechtfertigen, aber der Westen solle sich nicht wundern, dass Russland sich provoziert gefühlt habe.

Starmer holt traditionelle Labour-Wähler zurück

Als Sunak sich am 6. Juni bei Festlichkeiten zum Jubiläum der Landung der Alliierten in der Normandie von Außenminister David Cameron vertreten ließ, um in London Wahlkampf zu machen, wurde er für diese Entscheidung von vielen kritisiert. Farage warf Sunak, dessen Eltern Immigranten aus Indien sind, daraufhin vor, »unsere Kultur nicht zu verstehen«. Sofort ergänzte Farage, dass jeglicher Vorwurf des Rassismus gegen ihn nicht gerechtfertigt sei. Er erkenne die militärische Leistung der britischen Kolonien im Zweiten Weltkrieg an. Aber Sunak sei eben ein Superreicher, der die Gefühle von normalen Briten schlicht nicht verstehe.

Mit solchen Provokationen hat Farage bei bestimmten Wählergruppen Erfolg. Derzeit werden Reform UK landesweit bis zu 20 Prozent der Stimmen bei den Unterhauswahlen prognostiziert; die Konservativen pendeln – je nach Umfrage – zwischen 17 und 25 Prozent.

Anders als noch bei den Wahlen nach dem EU-Austrittsreferendum 2018 die Brexit Party, scheint Reform UK vor allem von den Konservativen Stimmen holen zu können und weniger von Labour. Starmer ist es gelungen, durch seinen politischen Kurs viele der traditionellen Wähler von Labour zurückzugewinnen. Auch die Enttäuschung über die gebrochenen Versprechen der Konservativen, die ökono­mische Situation im Norden Englands und in Wales zu verbessern, gibt Starmer in diesen alten Labour-Hochburgen einen Vorteil.

Weil das rechte Lager gespalten ist, könnte Labour einigen Prognosen zufolge in über 60 Prozent der Wahlkreise gewinnen und damit eine für die Partei nie da gewesene Mehrheit erzielen.

Starmers Partei profitiert nicht allein von der Krise der Konservativen, sondern auch die Liberaldemokraten und Grünen, die sich links von Labour po­sitionieren. Wahlumfragen prognostizieren der Labour-Partei etwa 40 Prozent der Stimmen, was in etwa dem Wert entspricht, der den Konservativen und Reform UK zusammen vorher­gesagt wird.

Weil das rechte Lager gespalten ist, könnte Labour einigen Prognosen zufolge in über 60 Prozent der Wahlkreise gewinnen und damit eine für die Partei nie da gewesene Mehrheit erzielen. Reform UK wird indes trotz sicherer Stimmenzuwächse aufgrund des Mehrheitswahlrechts möglicherweise nur eine Handvoll Sitze gewinnen, denn die Partei hat kaum regionale Hochburgen.

Für Farage ist dies kein Problem: Diese Wahl sei ohnehin für Labour entschieden, sagt er regelmäßig. Es gehe für Reform UK dar­um, die Konservativen als die dominierende Kraft der britischen Rechten abzulösen. Nicht wenige vom rechten Flügel der Tories wünschen sich in Zukunft eine Zusammenarbeit der beiden Parteien, gegebenenfalls auch unter Führung von Farage.