Dagmar Herzog zeigt die Vor- und Nachgeschichte der »Euthanasie« im Nationalsozialismus

Der lange Weg

Dagmar Herzog zeigt die Vor- und Nachgeschichte der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde auf. In ihrer Studie »Eugenische Phantasmen« gelingt der US-amerikanischen Historikerin eine dichte Zusammenfassung der spezifisch deutschen Diskussion über den Umgang mit behinderten Leben.

Als der Stein flog, war das Buch »Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte« von Dagmar Herzog schon gedruckt. In der Nacht zum 27. Mai griffen bislang unbekannte Täter ein Wohnheim für Menschen mit Behinderung der Lebenshilfe in Mönchengladbach an. Eingehüllt war das Wurfgeschoss in einen Zettel mit der Parole »Euthanasie ist die Lösung«.

Der Vorfall erinnert daran, dass Behindertenfeindlichkeit in Deutschland noch immer verbreitet und ein fester Bestandteil rechtsextremer Vorstellungen ist. Dennoch, so stellt es die US-amerikanische Historikerin Dagmar Herzog im Nachwort zur gerade erschienenen Buchausgabe ihrer Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2021 fest, haben sich die Maßstäbe im Umgang mit Menschen mit Behinderungen grundlegend geändert. Offen abfällige und herablassende Äußerungen seien »gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert« und müssten »mit kritischen Erwiderungen rechnen«.

An der Schwelle zum 20. Jahrhundert setzte sich in Deutschland ein Denken durch, das das Lebensrecht von Menschen mit geistiger Behinderung in Frage stellte.

Detailliert zeichnet Herzog die geistesgeschichtlichen Debatten über den »Wert behinderten Lebens« nach, wie sie in den vergangenen rund 150 Jahren in Deutschland geführt wurden. Sie betont, dass die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit der NS-»Euthanasie« im postfaschistischen Deutschland nicht ohne Wirkung geblieben sei. Immer mehr sei behindertes Leben als Teil der Gesellschaft akzeptiert.

An der Schwelle zum 20. Jahrhundert setzte sich in Deutschland ein Denken durch, das das Lebensrecht von Menschen mit geistiger Behinderung in Frage stellte. Herzog zeigt, dass es im 19. Jahrhundert zunächst auch Bestrebungen gegeben hatte, Kindern mit geistiger Behinderung Förderung zuteil werden zu lassen. So gründete der Schweizer Arzt Johann Jakob Guggenbühl 1841 in den Bergen eine Heilanstalt, in der die Kinder mit gesunder Ernährung und innovativer Pädagogik gefördert wurden.

Immer wieder weist Herzog auf das Engagement von Personen hin, die der Drohung, Menschen mit geistiger Behinderung zu vernichten, entgegentraten und mit Ideen der Förderung und Fürsorge für ein verbrieftes Lebensrecht aller Menschen einstanden. Diese Personen bildeten zweifelsohne die Ausnahme, denn die immer schärfere Abwertung von Menschen mit kognitiven Be­einträchtigungen und psychiatrischen Problemen ließ sich nicht aufhalten und mündete in das nationalsozialistische »Euthanasie«-Mordprogramm.

Psychiater, Pädagogen und Pastoren

Im gesamten Deutschen Reich entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter der Ägide der protestan­tischen Inneren Mission und der katholischen Caritas Anstalten für Behinderte. Der Trend zur Verstädterung, eine wachsende Bevölkerung und das Entstehen eines Gesundheitssystems führten dazu, dass sich von 1889 bis 1904 der Anteil der Menschen, die aufgrund einer Behinderung in einer Anstalt untergebracht waren, vervierfachte. Auch die Zahl der Hilfsschulen stieg. Zugleich wurde immer stärker darauf gedrängt, Behinderung als »Schwäche oder sogar Krankheit innerhalb des Volkes« zu interpretieren.

Dass die Behindertenpflege in Preußen nicht mehr nur als Aufgabe der Kirchen, Pastoren und Pädagogen angesehen wurde, sondern auch die Psychiater einbezogen wurden, heizte die Debatte weiter auf. Lange hatten sich die Psychiater gegen diese Aufgabe verwehrt, da sie »Irrsinn« und nicht »Idiotie« erforschen und behandeln wollten.

Herzog zufolge war die Einbeziehung der Psychiater in die Betreuung behinderter Menschen eine folgenschwere Entscheidung: »Als Psychiater, Pädagogen und Pastoren (…) einhellig zu der Ansicht kamen, dass es Menschen gab, die im plötzlich fließenden Grenzbereich zwischen Geisteskrankheit, geistiger Behinderung und potenzieller Straffälligkeit anzusiedeln waren und in ihre gemeinsame Zuständigkeit, fand eine komplexe diskursive Annäherung (zwischen ihnen; Anm. d. Red.) statt.« Neue diagnostische Etikettierungen wie »psychopathische Minderwertigkeit« und »moralischer Schwachsinn« kamen in Mode. 

Mörderische Ausführungen von Binding/Hoche

Damit einher ging das Bestreben, die Anzahl dieser als »unerwünschte Elemente« angesehenen Menschen mittels »Rassenhygiene« zu minimieren.
Von da an war es nur noch ein kleiner Schritt bis zu den mörderischen Ausführungen des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche. Deren Buch »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« erschien 1920 und führte in den folgenden Jahren zu kontroversen Debatten, die sich immer mehr gegen behinderte Menschen richteten. Christliche Barmherzigkeit interpretierten Religionspädagogen nun so, dass man »auch aus Wohlwollen das Leben verkürzen« könne.

Dem nationalsozialistischen »Eu­thanasie«-Programm fielen dann zwischen 1939 und 1945 annähernd 300.000 Menschen zum Opfer. Die meisten von ihnen galten als psychisch krank, geistig behindert oder verhaltensauffällig.

Herzog widmet der Zeit des Nationalsozialismus weniger Raum. Der Großteil ihres Buchs beschäftigt sich mit der Zeit nach 1945, jener langen Zeit des Postfaschismus, in der der Mord und die massenhafte Sterilisierung behinderter Menschen nicht als Unrecht anerkannt wurden. Sie lässt auch die Reformer zu Wort kommen. Der Pastor Ludwig Schlaich forderte bereits 1947 in seinem Buch »Lebensunwert?«, dass die Überlebenden des als »Aktion T4« bezeichneten Mordprogramms als Verfolgte des Nazi-Regimes anzuerkennen seien. Dieser Schritt sollte noch Jahrzehnte auf sich warten lassen.

Viele Täter der »Aktion T4« blieben straffrei

Die an der »Aktion T4« beteiligten Ärzte kamen zumeist straffrei davon. Menschen mit geistiger Behinderung wurden weiterhin sterilisiert. Ein Umstand, der, wie Dagmar Herzog nachweist, auch den insgesamt, also auch in der Zeit vor 1933, fehlenden humanistischen Traditionen Deutschlands geschuldet war. Man konnte sich nach 1945 schwerlich auf die »demokratische Weimarer Zeit« berufen – denn auch in der waren Behinderte mehrheitlich als »unnütze Esser« angesehen worden.

Selbst noch in den sechziger Jahren kam eine Umfrage von Helmut von Bracken zu dem Ergebnis, dass rund 70 Prozent der Befragten es für gut befanden, »wenn ein geistig behindertes Kind früh sterben würde«. Zu einem Prozess gegen die Täter der »Aktion T4« kam es dann auch gar nicht erst, obwohl Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ihn schon detailreich vorbereitet hatte. Ein Angeklagter beging Selbstmord, einer setzte sich nach Südamerika ab und die gesundheitlichen Probleme des dritten Angeklagten führten zur Einstellung des Prozesses. Es sollte keinen weiteren mehr geben.

Es dauerte noch bis Ende der siebziger Jahre, bis einflussreiche Personen wie der Historiker Ernst Klee und der Psychiater Klaus Dörner ein Umdenken fördern konnten. Die Veröffentlichung von Ernst Klees Studie »›Euthanasie‹ im NS-Staat« war ein Meilenstein. Der Erziehungswissenschaftler Georg Feuser intervenierte immer wieder gegen die Wahrnehmung, es gebe einen »harten Kern« Schwerbehinderter, die nicht integriert werden könnten. 

Zivilgesellschaftliche Organisationen setzten sich immer stärker für die Auflösung von weiterhin existierenden Großanstalten ein. Die »Krüppelbewegung« kämpfte in den achtziger Jahren provokant gegen Behindertenfeindlichkeit in Westdeutschland.

Klaus Dörner: Der Umgang der Gesellschaft mit den rund zehn Prozent der Schwächsten zeigt immer, wie gut es um ein demokratisches Gemeinwesenbestellt ist.

In einem eigenen Kapitel geht Herzog auf die Situation von Menschen mit geistiger Behinderung in der DDR ein. Auch hier benennt sie exemplarisch Fürsprecher, die sich für eine uneingeschränkte Zugehörigkeit der behinderten Menschen zur Gesellschaft aussprachen. In dem »Arbeiterstaat« galt nämlich auch lange noch das Paradigma, nur wer arbeite, gehöre wirklich zur Gesellschaft. Auch hier wirkten der Nationalsozialismus und die Zeit davor mit ihren Vorstellungen von so­genannten Arbeitsscheuen lange nach.

Herzog gelingt mit ihrem Buch »Eugenische Phantasmen« eine dichte und kenntnisreiche Darstellung der vergangenen rund 150 Jahre – eine Pflichtlektüre für alle angehenden Sonderpädagog:innen. Die His­torikerin verbindet die verschiedenen Ebenen und Teilbereiche aus Theologie, Pädagogik und Medizin. Die genaue Schilderung des unermüdlichen Einsatzes einzelner Streiter:in­nen für die Rechte der Schwächsten in der Gesellschaft ist beeindruckend. Klaus Dörner hat es sehr treffend auf einen Nenner gebracht: Der Umgang der Gesellschaft mit den rund zehn Prozent der Schwächsten (Menschen mit Behinderung, psychisch kranken Menschen) zeigt immer, wie gut es um ein demokratisches Gemeinwohl bestellt ist. Der Stein von Mönchengladbach muss daher eine Warnung sein.
 

Buchcover

Dagmar Herzog: Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Bischoff. Suhrkamp, Berlin 2024, 390 Seiten, 36 Euro