Blöd im Kopf mit Schlecker-TV
Im so genannten Reisezentrum des Berliner Ostbahnhofs sind an einem Vormittag Anfang April nur zwei Schalter besetzt. Wer sein Ticket dennoch nicht am Automaten kaufen möchte, muss – die Bundesbahn hat sich etwas Neues einfallen lassen – eine Nummer ziehen und warten, bis er oder sie aufgerufen wird. Dadurch verläuft sich die Schlange im Warteraum zwar etwas und ist auf den ersten Blick nicht mehr als solche zu erkennen, schneller bedient wird man aber keineswegs. Insbesondere alte Leute, die über keinen Internet-Zugang verfügen, sind zu Recht empört. Das kriegen die Frauen an den beiden Schaltern ab.
Nachmittags dann bei McPaper: »Wir haben auch wunderschöne Osterservietten«, flötet die Dame, bei der man zehn Klarsichthüllen bezahlen möchte. Man wundert sich, was das eine mit dem anderen zu tun haben soll, und fragt nach: »Wir müssen das«, erklärt die Verkäuferin entnervt, »das ist bei McPaper so Vorschrift. Wir müssen jeden Kunden dazu animieren, noch zusätzlich etwas zu kaufen.« Dass einem Geld aus der Tasche gezogen werden soll, das man eigentlich nicht ausgeben wollte, fällt auf. Natürlich werde sie immer wieder angeraunzt, gibt die Verkäuferin zu, und leicht sei das nicht, aber: »Heutzutage macht man alles für den Job«, mischt ihre Kollegin sich ein.
Die Unternehmensleitung von McPaper zu ihrer Verkaufspolitik zu befragen, gestaltet sich schwierig. Die firmeneigene Webseite gibt keine Telefonnummer an, das Berliner Telefonbuch zwei. Unter der einen heißt es allerdings: »Kein Anschluss unter dieser Nummer.« Bei der anderen schaltet sich nach mehrmaligem Klingeln ein Faxgerät ein.
Schwierig ist es auch bei Schlecker. Die Homepage der Drogeriekette verweist allein auf ein so genanntes Service-Telefon (»0,14 EUR/Min aus dem dt. Festnetz«), meldet aber stolz: »Mit Schlecker-TV erreicht der Discounter wöchentlich zwischen 16 und 20 Millionen Kunden am Point of Sale und kann mittels dieses Kanals gezielt auf aktuelle Angebote und Produktneuheiten hinweisen.«
Schlecker-TV – so heißt die Dauerwerbesendung, in der Badesalze oder Toilettenreiniger angepriesen werden und die in den in den meisten Filialen aufgestellten Fernsehapparaten gezeigt wird, deren Penetranz und Lautstärke den Kunden jede Lust nehmen, auch nur eine Sekunde länger als notwendig zu verweilen. So schnell wie möglich zu entfliehen, ist den Mitarbeiterinnen hingegen verwehrt, deren Gehörgänge und Nerven jeden Tag aufs Neue und ununterbrochen traktiert werden. »Ach, ich hör’ das schon gar nicht mehr«, sagt eine Mitarbeiterin in Neukölln, ihre Kollegin in einer anderen Filiale hat dem Apparat den Ton abgedreht: »Das ist gegen die Vorschrift, aber glauben Sie mir: Da wird man doch blöd im Kopf!«
Man glaubt es und steht eines Tages wieder bei McPaper. Wer einen Brief per Einschreiben mit Rückschein aufgibt, bekommt ihn nur selten ordnungsgemäß zugestellt. Man vermutet ein System dahinter, denn die »Servicenummer« der Post, unter der man reklamieren muss, ist kostenpflichtig. Teurer wird es noch, wenn man in der Warteschlange hängen bleibt, was verdächtig oft geschieht, und schließlich unverrichteter Dinge auflegen muss. Der einzige Mensch aus Fleisch und Blut, den der frustrierte Postkunde nun zu fassen kriegt, ist wiederum die Dame bei McPaper, denn zahlreiche Postfilialen sind bereits mit den Osterservietten zusammengelegt. »Ich habe jetzt 2,50 Euro vertelefoniert!« schreit eine Frau die Verkäuferin an, die irgendwie für beides geradestehen muss, für McPaper und die Post. »Und meinen Rückschein habe ich immer noch nicht.« Der Zorn der Kundin ist verständlich, aber die Verkäuferin kann nichts dafür. sie weiß auch nicht, was sie weiter raten soll, denn es gibt halt nur diese eine Nummer. Sie breitet hilflos die Arme aus und wirkt im Wortsinn sehr angegriffen.
»In vier von fünf deutschen Betrieben stehen Beschäftigte ständig unter hohem Zeit- und Leistungsdruck«, gibt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI), das der Hans-Böckler-Stiftung angegliedert ist, nach entsprechenden Erhebungen bekannt. »Die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz sind in den letzten Jahren gewachsen.« Dass insbesondere Beschäftigte des Dienstleistungssektors und Menschen, die in den Branchen Verkehr, Nachrichten und Telekommunikation arbeiten, unter hohem Druck stehen, verwundert nach Besuchen bei der Bahn, McPaper und Schlecker nicht.