Lizenz zum Foltern
Den Anklägern galt Binyam Mohamed als gefährlicher Terrorist, der Anschläge in den USA geplant hatte und dabei eine »schmutzige Bombe« einsetzen wollte, die radioaktives Material mit konventionellem Sprengstoff kombiniert. Doch als Oberstleutnant Yvonne Bradley, die ihn vor dem Militärtribunal in Guantánamo verteidigen sollte, das Beweismaterial sichtete, glaubte sie an einen Irrtum. »Zunächst dachte ich, sie hätten mir nicht alle Akten geschickt.« Sie hatte jedoch alle Dokumente erhalten, und als sie ihren Klienten besuchte, bemerkte sie, dass »er mehr Angst vor mir hatte als ich vor ihm«. Schließlich fragte sie sich: »Was zum Teufel tun wir hier?«
Diese Frage stellen sich nun auch immer mehr Briten. Nach sieben Jahren Haft kehrte der aus Äthiopien stammende 30jährige Binyam Mohamed Ende Februar nach Großbritannien zurück. Die US-Behörden hatten im Oktober 2008 alle Anklagen gegen ihn fallen lassen. Die britische Regierung sah ihn bereits seit dem Sommer 2007 als unschuldig an und setzte sich seitdem diplomatisch für seine Entlassung aus Guantánamo ein. Es wird erwartet, dass er nun unbeschränktes Aufenthaltsrecht in Großbritannien bekommt. Er hatte dort seit 1994 als Asylbewerber gelebt.
Die britische Regierung kommt nun immer stärker unter Druck, ihre eigene Rolle in der Behandlung von mutmaßlichen Terroristen untersuchen zu lassen. Insbesondere geht es um die Frage, ob die Regierung von der Folter an Gefangenen wusste und sie bewusst in Kauf nahm.
Im Jahr 2002 war Mohamed in Pakistan verhaftet und dem US-Militär übergeben worden. Die CIA stufte ihn als »feindlichen Kombattanten« ein und überstellte ihn nach Marokko. Seinen Angaben zufolge wurde Mohamed dort 18 Monate lang systematisch gefoltert, unter anderem sei er mit Skalpellen in die Brust und die Genitalien geschnitten worden. Seine Peiniger hätten ihm detaillierte Fragen über sein Leben in London gestellt, für ihn sei klar gewesen, dass britische Geheimdienstler diese Informationen geliefert hätten.
In Großbritannien ist auch die Beihilfe zu Folterungen strafbar. Nachdem die Anschuldigungen Mohameds im Oktober 2008 bekannt geworden waren, beauftragte die Regierung die Generalstaatsanwältin Patricia Scotland zu untersuchen, ob Strafanzeige gegen britische Geheimdienstmitarbeiter zu erheben sei. Diese Untersuchung läuft seit vier Monaten ohne Ergebnis. Keith Vaz, der Vorsitzende des Innenausschusses des Parlaments, mahnte in einem Brief an Scotland: »Vier Monate sind eine sehr lange Zeit für eine solche Entscheidung. Ich denke, dass sie jetzt erfolgen muss.«
Auch die politische Komplizenschaft der britischen Regierung steht zur Debatte. Es geht um geheime Unterlagen über die zweite Phase von Mohameds Haft. Im Januar 2004 wurde Mohammed nach Afghanistan überführt und in einem geheimen Gefängnis der CIA in der Nähe von Kabul eingesperrt. Mohamed sagt, er sei auch hier systematisch gefoltert worden, diesmal von Amerikanern.
Während im Jahr 2007 mehrere in Guantánamo Inhaftierte nach Großbritannien zurückkehren konnten, blieb Mohamed zurück. Die US-Militärjuristen bereiteten eine Anklage gegen ihn vor, die auf seinen Geständnissen basierte. Ihm drohte die Todesstrafe. Seine Anwälte gaben an, dass die Geständnisse unter Folter erzwungen worden und deshalb vor Gericht nicht verwendbar seien. Sie erlangten im Verfahren Einsicht in die Prozessakten, die aufgrund der juristischen Regelungen für die Verfahren in Guantánamo als geheim klassifiziert wurden. Aus diesen Unterlagen geht den Anwälten zufolge klar hervor, dass Amerikaner Mohamed gefoltert haben.
Die geheimen Dokumente lagen auch der britischen Regierung vor. Im Mai 2008 reichten Mohameds Anwälte eine Klage beim Obersten Gericht Großbritanniens ein, um eine Veröffentlichung zu erzwingen. Sie argumentierten, dass die britische Regierung Mohamed gegen ungerechte Bestrafung schütze müsse. Nach einer Veröffentlichung der Akten könne Mohamed nicht mehr verurteilt werden, da die Illegalität des Beweismaterials dann erwiesen sei.
Die britische Regierung lehnte die Veröffentlichung der Akten jedoch ab, da sie dem öffentlichen Interesse zuwiderlaufen würde. Die US-Regierung gab im Laufe des Verfahrens wiederholt zu verstehen, dass der Austausch von geheimdienstlichen Informationen in Frage stehe, falls ein britisches Gericht die Herausgabe von geheimem Material erzwingen sollte. Im Oktober 2008 ließen dann auch die Amerikaner die Anklage gegen Mohamed fallen und machten damit den Weg für seine Rückkehr nach Großbritannien frei, bevor das Londoner Gericht endgültig über die Veröffentlichung entschieden hatte.
Doch die Akten bleiben politisch brisant. Sollten sie tatsächlich belegen, dass amerikanische Behörden gefoltert haben, könnte das auch in den USA Konsequenzen nach sich ziehen. Viele Bürgerrechtler und manche Demokraten fordern eine juristische Aufarbeitung im »War on terror« begangener Verbrechen.
Der britische Außenminister David Miliband hatte wiederholt darauf hingewiesen, dass nur die US-Regierung entscheiden könne, ob die Mohamed und andere Verdächtige betreffenden Geheimakten veröffentlicht werden. Im Januar 2009 folgte das Oberste Gericht dieser Ansicht und lehnte die Klage der Anwälte Mohameds ab. Unter anderem begründeten die Richter ihre Entscheidung mit der Aussage Milibands, die Amerikaner hätten gedroht, bei einer Veröffentlichung der Unterlagen in Großbritannien die geheimdienstliche Zusammenarbeit einzustellen.
Dass sich das Gericht öffentlich dazu bekannte, wegen solcher Drohungen die Geheimhaltung zu genehmigen, löste Empörung in der britischen Öffentlichkeit aus. Miliband behauptete nun, von »Drohungen« sei nie die Rede gewesen. Er bestand aber darauf, dass die Veröffentlichung der britischen nationalen Sicherheit einen »realen und signifikanten Schaden« zufügen könne. Das Oberste Gericht hat den Fall nun auf Antrag der Anwälte Mohameds wieder aufgenommen.
Die britische Regierung gerät stärker unter Druck. Der Terrorismusbeauftragte der Regierung, Lord Carlile, forderte eine Untersuchung der Vorwürfe Mohameds sowie anderer Fälle, in denen die Regierung in Folterungen involviert sein soll. Dabei geht es unter anderem um zwei Terrorverdächtige, die britische Spezialtruppen im Jahr 2004 an die Amerikaner ausgeliefert hatten, und um die Rolle der britischen Geheimdienste bei der Folterung von zehn Terrorverdächtigen in Pakistan. Ende Februar hatte Human Rights Watch den britischen Behörden Komplizenschaft bei der Folterung der Verdächtigen in Pakistan vorgeworfen.
Binyam Mohamed sagte nach seiner Freilassung, er sei nicht an Rache interessiert. »Aber die Wahrheit muss herauskommen, so dass in Zukunft niemand ertragen muss, was mir angetan wurde.« Bislang konnten nur einige Einzelfälle aufgeklärt werden. Die Schätzungen über die Zahl von Verdächtigen, die an Staaten überstellt wurden, in denen gefoltert wird, schwanken zwischen 50 und mehreren tausend. Das Europa-Parlament stellte im Jahr 2007 fest, dass die CIA »mindestens 1 245 Flüge in Europa durchgeführt hat und dass es in bis zu 21 Fällen zu Verschleppungen kam«. Beteiligt an dieser Praxis war nicht nur die britische Regierung.