Mafia alla tedesca
Gangster-Kapitalismus? Das gibt es doch nur im Ausland! Der deutsche Kapitalismus ist anständig, deutsche Unternehmer und Manager haben blütenweiße Westen, deutsche Politiker und Beamte sind immun gegen Korruption, und die Wirtschaftskriminellen kommen immer von auswärts. Unvorstellbar, dass es hierzulande zugehen könnte wie in manchen Gegenden Italiens, wo diverse Mafias die lokale und regionale Industrie und Politik unter Kontrolle haben, oder wie in Russland und vielen Dritte-Welt-Ländern, wo die Regierungsgewalt in den Händen korrupter Familienclans liegt und zur Ausplünderung der Staatskasse und der eigenen Bevölkerung missbraucht wird. Woanders mag es die unschöne Kombination aus Kapitalismus, Korruption und Kriminalität geben. Aber doch nicht im zivilisierten Deutschland!
Diese Vorstellung ist äußerst merkwürdig. Seit Jahrzehnten wird die Weltwirtschaft liberalisiert und dereguliert, was das Zeug hält, seit Jahrzehnten wird eine Welt geschaffen, die dem transnationalen organisierten Verbrechen mehr und lukrativere Möglichkeiten eröffnet als je zuvor. Zum ersten Mal in der Geschichte sind die Netzwerke des organisierten Verbrechens weltweit tätig. Die Drogenökonomie, die Ökonomie des Menschenhandels, die Schmuggelökonomie, Betrug, Erpressung, Entführung, Diebstahl und Hehlerei, Raub und Mord – all diese lukrativen Tätigkeiten sind längst grenzüberschreitende, wohl organisierte Geschäftszweige geworden. Und sie sind durch die Ströme des Schwarzgeldes und die auf allen Finanzmärkten der Welt, insbesondere aber in den Steueroasen und Offshore-Märkten betriebene Geldwäsche mit der offiziellen, legalen Wirtschaft eng verflochten. Einige kriminelle Aktivitäten wie der illegale Waffenhandel oder die Schiebereien mit Giftmüll wären ohne die Symbiose mit der offiziellen Ökonomie gar nicht möglich.
Die Bundesrepublik ist Teil dieser weltweiten kriminellen Ökonomie. Sie ist in Europa einer der größten und lukrativsten Märkte für die kriminellen Entrepreneurs aller Sorten und als unangefochtener »Exportweltmeister« weit stärker in die Weltwirtschaft integriert als etwa die USA. Wirtschaftsverbrechen aller Art werden in der Bundesrepublik immer beliebter, die Schäden wachsen Jahr für Jahr. Schwarzgeld und schwarze Kassen gehören längst zum Alltag; Politiker, selbst ehemalige Regierungschefs, Oberstaatsanwälte und andere Justizchargen haben sich als käuflich erwiesen.
Eine der gesicherten Einsichten der Kriminologie lautet: Die Kriminalität der »weißen Kragen«, also die Kriminalität in und von Unternehmen und der so genannten Wirtschaftseliten (Manager und Unternehmer, hoch bezahlte Spezialisten mit Universitätsdiplom), richtet in der Gesellschaft ein Vielfaches des Schadens an, das die Kriminalität der »blauen Kragen«, der Menschen aus den Unterschichten und Randgruppen, verursacht.
Die Wirtschaftskriminalität blüht. Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung, Zollbetrug, Subventionsbetrug, Geldwäsche, Schiebereien mit Giftmüll, Betrug und Unterschlagung in Firmen nehmen ständig zu. Nach der Kriminalitätsstatistik sorgt die Wirtschaftskriminalität in Deutschland mit dem geringfügigen Anteil von nur 1,4 Prozent aller offiziell erfassten Straftaten für weit mehr als die Hälfte der Gesamtschäden. Zusätzlich gibt es gerade für diese Art von höchst profitablen, unsauberen Geschäften ein riesiges Dunkelfeld, das die Fachleute auf gut 80 Prozent schätzen.
Die Zahl der entdeckten Fälle steigt ebenso wie die Summe der Schäden. In den Großunternehmen fallen mit 55 Prozent die meisten an, weniger in mittleren (31 Prozent) und relativ wenige (19 Prozent) in kleinen Unternehmen. Eine aktuelle Studie von Pricewaterhouse/Cooper kam schon bei 240 befragten Unternehmen auf eine Schadenssumme von über 250 Millionen Euro pro Jahr. Rechnet man das auf die Gesamtzahl der deutschen Unternehmen hoch und berücksichtigt auch das Dunkelfeld, ergeben sich geschätzte Schäden in Milliardenhöhe.
Alle Studien zeigen, dass sich die kriminelle Energie im Management und bei den langjährig beschäftigten, höheren Angestellten konzentriert. Am stärksten betroffen ist in Deutschland die Branche der Finanzdienstleistungen (Banken, Versicherungen, Investmentfonds usw.). Während 46 Prozent aller Unternehmen von Wirtschaftskriminalität betroffen sind, sind es bei den Banken und Versicherungen 63 Prozent.
Bei den meisten Delikten – Betrug, Unterschlagung, Geldwäsche und Bilanzfälschung sind die wichtigsten – sind die Finanzdienstleister Täter und Opfer zugleich. Der Kreis der Geschädigten, darunter oftmals auch betrogene Betrüger, ist riesig. Oft ist Korruption im Spiel. Der Anteil der Geldwäsche steigt, obwohl in jüngster Zeit mehr und intensivere Kontrollen stattfinden. Aber auch dabei sind die Banken häufig Opfer und Täter zugleich.
Die Übergänge zwischen gewöhnlicher Wirtschaftskriminalität und organisierter Kriminalität sind fließend. Jede organisierte Kriminalität, die auf Dauer, geschäftsmäßig und profitabel betrieben wird, bedarf eines Umfelds von legalen Scheinfirmen, die verschiedene, notwendige Funktionen erfüllen, von der Geldwäsche bis zur erfolgreichen Investition der kriminellen Gewinne. Scheinfirmen sollen kriminelle Profite legalisieren – ohne Bilanzfälschungen, Betrug, Geldwäsche und Korruption geht das in der Regel nicht.
Nur das deutsche Strafrecht hält künstlich auseinander, was längst zusammengewachsen ist und seit jeher zusammengehört. Die Statistik des Bundeskriminalamts zeigt, dass die Zahl der erfassten Fälle organisierter Kriminalität und die ermittelte Schadenssumme wachsen – die kriminellen Gewinne wurden auf rund eine Milliarde Euro pro Jahr geschätzt, die Schäden auf 600 bis 700 Millionen. In fast 35 Prozent der erfassten Fälle geht es um Rauschgiftkriminalität, aber fast 14 Prozent entfallen auf das, was in der Statistik des BKA verschämt und umständlich »Organisierte Kriminalität im Zusammenhang mit dem Wirtschaftsleben« genannt wird. Und genau hier fällt mehr als ein Drittel der Schäden und der geschätzten kriminellen Gewinne an. Selbst das BKA kommt nicht umhin, den Zusammenhang von organisierter Kriminalität und ganz gewöhnlicher Wirtschaftskriminalität zur Kenntnis zu nehmen.
Dank der Skandale bei Siemens und VW beginnt es langsam ins öffentliche Bewusstsein zu dringen: In den Chefetagen der renommiertesten, traditionsreichsten deutschen Firmen wird nach Kräften gelogen, betrogen, korrumpiert, gefälscht und geschoben. In beiden Fällen gab es Verbindungen zu hochrangigen Politikern. Gerhard Schröder und Peter Hartz gehörten ein und derselben Connection an. Auch in Deutschland stinkt der Fisch gewaltig vom Kopf her.