Gut versteckte Einseitigkeit
Die Empörung war groß bei der letzten Plenarsitzung des Europa-Parlaments im November. In einer von allen fünf großen Fraktionen unterstützten und mit überwältigender Mehrheit angenommenen Entschließung zum Nahost-Konflikt ist von »flagranter Verletzung der Grundrechte« und »unverhältnismäßigen oder willkürlichen Angriffen auf die Zivilbevölkerung« die Rede. Die EU-Abgeordneten zeigten »sich zutiefst empört« über die Angriffe, die »humanitäre Krise« habe inzwischen ein »katastrophales Ausmaß« angenommen.
Sollte das europäische Parlament am Ende doch noch eine klare Sicht auf die Taten palästinensischer Terroristen gewonnen haben? Sollte es sich empören über die inzwischen täglich durchschnittlich sechs bis acht Kassam-Raketen, mit denen der Islamische Jihad und die Hamas unterschiedslos israelische Schulen, Wohnhäuser und Fabriken im Grenzgebiet zum Gaza-Streifen beschießen? Weit gefehlt.
Wie schon bei früheren Gelegenheiten empörten sich die EU-Parlamentarier erneut zunächst über die israelischen Gegenmaßnahmen. Sicher, es gab auch einen traurigen Anlass zur Entrüstung. Eine fehlgeleitete israelische Artilleriegranate hatte Ende Oktober in Beit Hanoun 19 Palästinenser, vor allem Frauen und Kinder, getötet. Pflichtschuldig werden in der Entschließung des Parlaments zwar auch die palästinensischen Angriffe verurteilt, die rechte Empörung stellt sich aber eben erst ein, wenn Israel versucht, seine international anerkannten Grenzen zu verteidigen.
Fast gleichzeitig demonstrierten drei wichtige EU-Mitgliedsstaaten ihren im Vergleich zum Europa-Parlament geradezu ausgeprägten politischen Pragmatismus. Vor zwei Wochen stellten die Regierungen von Spanien, Italien und Frankreich ihre »neue Friedensinitiative« für den Nahen Osten vor. Das mittelfristige Ziel sei eine Friedenskonferenz mit Beteiligung aller Konfliktparteien, sagte der spanische Ministerpräsident José Luis Rodriguez Zapatero nach Gesprächen mit dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac in der nordostspanischen Stadt Gerona.
Begründet wurde das Vorhaben vom italienischen Ministerpräsidenten Romano Prodi unter anderem damit, dass die Mittelmeer-Anrainer ein besonderes Interesse an einem Frieden im Nahen Osten hätten. »Im Angesicht des Schreckens, der sich vor unseren Augen immer weiter entfaltet, können wir nicht teilnahmslos bleiben«, erklärte Zapatero zur Situation im Gaza-Streifen. Doch vermieden es die Repräsentanten der drei Staaten, ausschließlich Israel die Schuld an der gegenwärtigen Lage zu geben. Ihre Schuldvorwürfe versteckten sie lieber gut in ihrem Fünf-Punkte-Plan.
Drei der fünf Punkte beinhalten ohnehin nichts Neues. Über einen Waffenstillstand, einen Gefangenenaustausch und ein Gipfeltreffen zwischen Israels Ministerpräsident Ehud Olmert und Mahmoud Abbas, dem Vorsitzenden der Palästinensischen Autonomiebehörde, verhandeln Israelis und Palästinenser schon längst – allerdings hinter den Kulissen. Hinter dem vierten Punkt, der Bildung einer palästinensischen Regierung der »nationalen Einheit« aus Hamas und Fatah, steckt hingegen der Wunsch, die eskalierenden innerpalästinensischen Auseinandersetzungen zu beenden und die Palästinenserbehörde wieder offen unterstützen zu können, indem den Hardlinern innerhalb der Hamas vorgeblich »moderate« Fatah-Politiker an die Seite gestellt werden. Ein Ziel, dessen Vorteile für Israel durchaus zweifelhaft sind.
Der fünfte Punkt schließlich hat es in sich. Demnach soll der einzugehende Waffenstillstand von einer »internationalen Beobachtermission« im Gaza-Streifen »überwacht« werden. Bereits jetzt ist es so, dass israelische Aufklärungsflugzeuge im Libanon beobachten können, wie die Hizbollah weitgehend ungehindert aufrüstet, und es sind die Israelis, die dafür neuerdings ins Visier der französischen Luftabwehr der dortigen »internationalen Beobachtermission« geraten. Nun soll sich Israel dies künftig also auch im Gaza-Streifen bieten lassen.
Kein Wunder, dass die spanische, französische und italienische Regierung ihren Plan lieber nicht im Einvernehmen mit der israelischen Regierung entwickelt haben. Befürchtete man doch, wie der spanische Außenminister Miguel Moratinos der israelischen Tageszeitung Ha’aretz darlegte, dass Israel den Plan sogleich ablehnen würde. Was allerdings auch so geschah. So verwies etwa Israels Botschafter in Berlin, Shimon Stein, auf das Nahost-Quartett, an dem die EU, die USA, Russland und die Uno beteiligt sind. Dessen Friedensplan, die so genannte road map, werde schließlich auch von Israel und dem Palästinenserpräsidenten Abbas unterstützt. Deswegen solle man »nicht versuchen, das Rad neu zu erfinden«, sagte Stein.
Die absehbare Ablehnung der Initiative durch die israelische Regierung deutet darauf hin, dass noch etwas anderes hinter dem Vorhaben steckt. US-Präsident George W. Bush als oberster Repräsentant der Hauptordnungsmacht im Nahen Osten ist wegen des Desasters im Irak und der Niederlage seiner Partei bei den Kongresswahlen innen- und außenpolitisch geschwächt. Ähnlich geht es seinem engsten Verbündeten in Europa, dem britischen Premierminister Anthony Blair, der für das kommende Jahr seinen Rücktritt angekündigt hat. Diese Schwäche wollen nun offenbar ihre europäischen Konkurrenten nutzen, um im israelisch-palästinensischen Konflikt an Einfluss zu gewinnen.
Von der EU-Kommission wurde das Vorhaben der drei Länder begrüßt. Über mögliche Nahost-Initiativen soll bei dem am 14. und 15. Dezember bevorstehenden EU-Gipfel gesprochen werden. Dann könnte der neue Plan so »realistisch« gewendet werden, dass ihn sich Deutschland für seine EU-Ratspräsidentschaft ab Januar zu eigen machen kann. Ein Regierungssprecher jedenfalls erklärte bereits: »Wir freuen uns über diese Initiative unserer Partner Frankreich, Spanien und Italien. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat wiederholt erklärt, dass während der deutschen Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 auch die Frage der Nahost-Politik im Vordergrund stehen soll.«
Der italienische Ministerpräsident Prodi kündigte vergangene Woche an, auch Deutschland und Großbritannien an der von den drei Ländern entwickelten Nahost-Initiative beteiligen zu wollen. Das hatte auch Wolfgang Gehrcke, Sprecher der Bundestagsfraktion der Linkspartei, gefordert und kritisiert, dass die Bundesregierung nicht als Mitinitiator aufgetreten sei. »Gerade angesichts der bevorstehenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft darf die Bundesregierung nicht länger abtauchen, sondern muss endlich Position beziehen. Die Bundesregierung muss die italienisch-spanisch-französische Initiative unverzüglich aufgreifen und sie als EU-Position im ›Quartett‹ von Uno, EU, USA und Russland auf die Tagesordnung setzen.«