Wie hältst du’s mit dem Genozid?
Wenn mein Urgroßvater ein Massenmörder war, kann er von mir aus zur Hölle fahren. Aber wieso muss ich mich vor Tante Truus und Onkel Jan dafür rechtfertigen? Weil es ihren Normen und Werten entspricht? Dann sage ich: Haut ab mit euren Normen und Werten!« Talip Demirhan ist wütend. Die Christdemokraten (CDA), in deren Vorstand er acht Jahre saß, strichen Ende September zwei türkischstämmige Kandidaten von der Liste für die Parlamentswahl im November. Sie hatten sich – ganz auf Linie mit den Nationalisten in der Türkei – geweigert, den Genozid an den Armeniern im osmanischen Reich 1915 als solchen anzuerkennen. Aus demselben Grund ersetzten auch die Sozialdemokraten (PvdA) einen ihrer Kandidaten.
Besonders wütend ist Demirhan auf die seiner Ansicht nach »verrückte« Erklärungsnot, in die niederländische Politiker mit türkischem Hintergrund hinsichtlich des Genozids an den Armeniern mittlerweile geraten seien. Dabei steht die jahrelange Weigerung der Türkei, den Völkermord anzuerkennen, der Forderung der EU entgegen, Ankara solle zumindest einer unabhängigen Untersuchungskommission zustimmen und deren Ergebnisse akzeptieren.
Die Bezeichnung »Genozid« für die Deportation und Ermordung der Armenier steht in der Türkei noch unter Strafe. Die Niederlande gehören zu den 20 Ländern, die den Völkermord offiziell anerkannt haben. Die politischen Parteien erwarten daher auch von ihren türkischstämmigen Kandidaten, dass sie dies tun. Weil sie das aber partout nicht wollten, verloren nun die Christdemokraten Ayhan Tonca und Osman Elmaci ihre Listenplätze ebenso wie der Sozialdemokrat Erdinc Saçan, auf dessen Website der Tatbestand des Genozids zur Diskussion gestellt wird.
An der Basis beider Parteien kam es daraufhin zu Protesten. 30 CDA-Parteimitglieder türkischer Herkunft forderten beim Kongress der Partei Anfang Oktober, den als Ersatz aufgestellten Nihat Eski ebenfalls von der Liste zu streichen. Ein Kandidat, der den Genozid anerkennt, gilt ihnen als »Entschuldigungstürke«. Auch in der PvdA, die traditionell mehr auf migrantische Wählerstimmen setzt, ist das Thema nicht unumstritten. Nach dem Spitzenkandidaten Wouter Bos steht Nebahat Albayrak, Tochter türkischer Einwanderer, auf dem zweiten Listenplatz. Der Druck auf sie ist groß. Die niederländischen Armenier fordern sie auf, die Dinge beim Namen zu nennen, während viele Türken sie als »Landesverräterin« beschimpfen. Die Partei will sie einerseits auf der offiziellen Linie wissen, andererseits ihre beachtliche türkische Wählerschaft nicht verlieren.
Albayrak versucht indes, die Wogen zu glätten. In einem Brief an die Zeitung Trouw wandte sie sich zusammen mit Frans Timmermans, dem europapolitischen Sprecher der niederländischen Sozialdemokraten, gegen eine »Diskussion über Definitionen und Wortwahl, die die Lösung eher weiter weg als näher bringt«. Unverkennbar jedoch geht es um mehr als vermeintliche juristische Haarspalterei, verläuft die Diskussion doch zusehends entlang nationaler Linien und kruder Ethnizitätskonstruktionen. Die Zeitung De Volkskrant halluzinierte von einem Konflikt »zwischen südlichem Temperament und niederländischer Geradlinigkeit«.
Auf Seiten der türkischen Wähler wirkt die Affäre als Amalgam, das inhaltliche Unterschiede verdeckt. Vor dem Hintergrund des kulturnationalistischen Untertons in der niederländischen Integrationsdebatte wird die »armenische Frage« von vielen als Fortsetzung einer Politik aufgefasst, die Minderheiten ihre Rechte nimmt – so formulierte es der Vorsitzende des Mitspracheorgans der Türken in den Niederlanden, Sabri Bagci, auf einem landesweiten Treffen zur Diskussion in »einer gemeinsamen Antwort«. Und obwohl der Dachverband seine Mitglieder zum Urnengang aufrief, bleibt die Option eines Wahlboykotts quer durch das niederländisch-türkische Spektrum im Gespräch.