219 Oppositionelle

Syriens Präsident Assad wäre es recht, wenn im Nahen Osten alles so bliebe wie es ist

Es dürfte gegenwärtig so manchen westeuropäischen Politiker geben, der bedauert, daß der syrische Präsident Hafiz al-Assad nicht hart blieb, als die Türkei im Oktober 1998 ultimativ die Ausweisung des PKK-Chefs Öcalan verlangte.

Doch Assad gab den militärischen Drohungen der Türkei nach. Dies bewies einmal mehr seine Flexibilität, zeigte aber auch, daß die syrische Verhandlungsposition schwächer geworden ist. Für gewöhnlich läßt sich Assad sein Entgegenkommen honorieren, im Konflikt um die PKK mußte er sich den türkischen Forderungen jedoch ohne Gegenleistung beugen.

Assad, der seinen Freunden als weitsichtiger Pragmatiker und seinen Feinden als prinzipienloser Opportunist gilt, war es gelungen, Syrien durch geschickte Bündnispolitik zu einem wichtigen Faktor in der Nahostpolitik zu machen. An die arabisch-nationalistische Staatsideologie der syrischen Baath-Partei fühlte er sich nie gebunden, im ebenfalls baathistisch beherrschten Irak sah er nur einen gefährlichen Konkurrenten, gegen den er sich mit dem Iran verbündete.

Im Unterschied zu Saddam Hussein kannte Assad immer die Grenzen seiner Macht. So gelang es ihm mit einer Mischung aus Gewalt, Verhandlungsgeschick und Bestechung, eine syrische Hegemonie über den Libanon zu etablieren. Und während das irakische Regime allein auf Terror setzt, versteht Assad sich auf eine geschickte Kombination von Unterdrückung und Zugeständnissen. Der syrische Repressionsapparat schlägt mit aller Härte zu, wenn es dem Regime notwendig erscheint. Als 1982 islamistische Aufständische die Macht im nordsyrischen Hama übernahmen, wurde die Stadt drei Wochen lang von der Armee mit schweren Waffen beschossen; die Zahl der Toten wird - je nach Schätzung - mit 10- bis 25 000 angegeben. Doch wenn die Gegner geschlagen und zur Unterwerfung bereit sind, versucht Assad, sie auch wieder zu integrieren.

Als sich die kleine, allein im Offizierskorps dominierende Baath-Partei 1963 an die Macht geputscht hatte, organisierte sie zunächst das Bündnis mit den unteren Klassen und konfessionellen Minderheiten wie den Alawiten (die etwa 12 Prozent der Bevölkerung stellen, knapp drei Viertel sind Sunniten). Seither stellen sie die Mehrzahl der syrischen Baathisten. Die Alawiten hatten ebenfalls ein Interesse daran, die Macht der Sunniten beim Handel und im Agrarbereich einzuschränken. So wurde der syrische Baathismus in sozialer Hinsicht radikaler als andere arabisch-nationalistische Regierungen, und in den sechziger Jahren entwickelte sich in der Baath-Partei sogar eine offen atheistische Strömung.

Nachdem die linksbaathistische Strömung durch die Niederlage im Krieg gegen Israel 1967 diskreditiert war, übernahm der "realpolitische" Flügel unter Luftwaffenchef Assad die Macht. Assad bremste die kulturrevolutionären Tendenzen in der Baath-Partei aus und machte den wohlhabenden Sunniten Zugeständnisse. Auf die wachsende Unzufriedenheit nach dem Ende der reformerischen Phase reagierte das Regime mit ökonomischer Liberalisierung. Der politische Bereich blieb allerdings ausgespart.

Die Bevölkerung wird im Alltag nicht allzusehr mit Propaganda belästigt und kann sogar über ihre Kleidung selbst entscheiden. Kurdische Sprache und Folklore sind gestattet, ebenso die Religionsausübung aller Konfessionen. Satellitenschüsseln und der Import westlicher Videos sind zwar verboten, werden aber geduldet. Wirtschaftlich kontrolliert der private Sektor heute die Hälfte der Industrieproduktion, dennoch gibt es in Syrien keine privaten Banken. Geldverkehr und Außenhandel bleiben unter staatlicher Kontrolle, das Regime will seine Rolle als Vermittler zwischen den Klasseninteressen weiterspielen. Daß mit dieser Politik ein relativ hohes Wirtschaftswachstum (rund fünf Prozent im vergangenen Jahr) erreicht wurde und Syrien bislang keine IWF-Kredite in Anspruch nehmen mußte, liegt allerdings nicht zuletzt an Subventionen der Golfmonarchien für Assad.

Deren Wohlwollen und zeitweise auch das der USA hatte sich Assad im zweiten Golfkrieg mit der Unterstützung der Anti-Irak-Koalition gesichert. Syrien erhielt allein 1991 zwischen drei und fünf Milliarden Dollar. Zudem gaben die USA, gegen den Widerspruch Israels, ihre Zustimmung für eine dauerhafte syrische Hegemonie über den Libanon. Für die Golfmonarchien hat Syrien als Gegengewicht zum Irak weiterhin Bedeutung. Die USA dagegen setzten nach 1991 wieder einseitig auf ihre traditionellen Verbündeten Israel und die Türkei.

Solllte das so bleiben, könnte sich Syrien um eine stärkere Zusammenarbeit mit Iran, Irak und Rußland bemühen und darauf hoffen, daß sich die Differenzen in der Nahost-Politik verstärken: zwischen der EU und den USA oder zwischen den USA und der Türkei. Als Ende letzten Jahres nach den ersten US-Raketen auf den Irak ein syrischer Mob die US-Botschaft in Damaskus stürmte, erschien dies bereits vielen Kommentatoren als Wink an die USA, syrische Interessen nicht völlig zu ignorieren.

Nach Darstellung des Nachrichtenmagazins le nouvel afrique-asie war der Angriff auf die US-Botschaft jedoch nicht im Sinne des Regimes. Geplant sei allein ein begrenzter Protest gewesen, doch zu den vom Regime mobilisierten Schülern und Studenten hätten sich andere Demonstranten gesellt. Den anwesenden Parteivertretern sei es dann nicht gelungen, die Stimmung zu kontrollieren. Zahlreiche Demonstranten wurden anschließend festgenommen.

Jedenfalls dürfte die Zahl der Oppositionellen doch etwas größer sein als 219 - soviele Nein-Stimmen gab es beim Referendum über die fünfte Amtszeit Assads Anfang Februar. Es gibt Anzeichen für eine Renaissance des Linksbaathismus, die als potentiell bedrohlich erachtet werden, weil damit eine Wiederaufnahme der baathistischen Tradition des Putschens einhergehen könnte. Auch eine Reorganisierung der islamistischen Bewegung, die Anfang der achtziger Jahre zerschlagen wurde, ist möglich.

Um nationalistische und islamistische Vorwürfe des Verrats kontern zu können, die nach einem Abkommen mit Israel laut würden, muß Assad die Golan-Höhen zurückgewinnen. Deren Rückgabe ist auch für die Mehrheit der israelische Rechten akzeptabel, und bei Verhandlungen mit der Arbeitspartei in Maryland (USA) 1995/96 wurden erste Grundlagen eines Friedensvertrages ausgearbeitet, die eine Entmilitarisierung der Golan-Höhen vorsehen.

Umstritten blieb, ob es, wie von Syrien gefordert, auch auf israelischer Seite eine entmilitarisierte Zone geben soll, und wer die Entmilitarisierung garantiert. Hier sträubt sich Syrien gegen eine starke Rolle der USA. Auch auf die von Israel geforderte wirtschaftliche Öffnung will Assad sich nicht einlassen. Sie würde die sozialen Unterschiede verschärfen und der Opposition Munition liefern. Assad erwartet zudem eine "Friedensdividende": also Finanzhilfen, wie sie seit Ende der siebziger Jahre Ägypten für den Friedensschluß mit Israel von den USA erhalten hat.

Angesichts der Risiken eines Friedensvertrages kommt Assad der Stillstand in den Verhandlungen ganz gelegen. Netanjahu hatte nach seiner Wahl einen Neubeginn der Verhandlungen ohne Berücksichtigung des in Maryland erreichten Standes gefordert. Darauf wollte Assad sich nicht einlassen. Er muß auch befürchten, daß die USA nach einem Friedensschluß noch weniger Grund sehen werden, auf Syrien Rücksicht zu nehmen. Mit der gegenwärtigen Stagnation, die er propagandistisch als Standhaftigkeit darstellt, kann er hingegen gut leben.