Die Musik ist zu laut

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Viel zu laut!

»Biden tritt nicht an!« verkündete Julia, als sie ihren Kopf zur Tür reinstreckte. Ohne sie wüsste ich nichts davon. Auch vom Attentat auf Trump erfuhr ich nebenbei von anderen. Ich bin eben im Urlaub in Herräng, dem größten Swingtanz-Camp des Globus, dem »Wacken« des Swingtanzens. Die Welt kann draußen bleiben. Natürlich diskutieren wir dennoch ausgiebig über die kommende Präsidentschaftswahl in den USA oder über Putins Russland. Im deutschen Haus wohnten in den vergangenen Wochen mehrere Exil-Russ:in­nen und ein US-Amerikaner.

Aber eigentlich dreht sich hier in Herräng alles ums Tanzen. Tagsüber unterrichten internationale Tanzlehrer:innen die verschiedenen Leistungsklassen von Beginner bis Advanced in großen Zelten. Stundenlang dröhnt der Sound der Musik und der Tanzenden aus dem Camp zu uns auf die Terrasse herüber.

Mit Schallplatten aufzulegen, erfordert einfach mehr Konzentration als das Laptop-Geklicke.

Abends wird auf verschiedenen Partys getanzt. Im großen Ballroom wird heute Rhythm & Blues ­aufgelegt. Mit Schallplatten. Als ich reinkomme, merke ich sofort, dass die DJs betrunken sind. Der Tonarm springt von der Platte, wird wieder aufgelegt, springt zehn Sekunden später wieder ab, die Passage wiederholt sich und dann seltsamerweise sogar noch ein drittes Mal.

Das nächste Stück beginnt mit der falschen Geschwindigkeit, bis der Plattenspieler von 33 auf 45 Umdrehungen gestellt wird. Es sind typische Fehler, die mir auch immer passiert sind, wenn ich betrunken aufgelegt habe. Mit Schallplatten aufzulegen, erfordert einfach mehr Konzentration als das Laptop-Geklicke.

»Loud? I love loud!«

Warum sind die Lappies immer nüchtern und warum müssen ausgerechnet die einzigen Vinyl-DJs im Camp betrunken auflegen? Während ich mir diese Fragen stelle, tönt Jimmy Liggins’ Bariton aus den Boxen: »Drunk!« Alles in ohrenbetäubender Lautstärke. So laut, dass die Leute sich die Ohren zuhalten. Ich tanze mit Ginny aus Oregon. Nach einer Minute brechen wir ab. Es macht keine Spaß – es tut weh. Den DJ kenne ich seit Jahren persönlich. »Ich sollte ihm das sagen. Er muss wissen, dass es hier unten viel zu laut ist«, sage ich zu Ginny. »Ja, mach das mal«, antwortet sie. Schon stemme ich mich hoch, um auf die Bühne zu ge­langen, auf dem das DJ-Pult steht. Hier oben ist es tatsächlich nicht so laut wie unten. »Es ist zu laut«, sage ich zum DJ.

Er guckt mich kurz an, sagt: »Loud? I love loud!«, und wendet sich dann wieder seinen Singles zu. Lässt mich da oben vor dem Pult einfach stehen. Ich klettere wieder runter, bin enttäuscht. Und verletzt. Er ist einer der wenigen Plattensammler in der Szene, einer der wenigen Gleichgesinnten, und wir ­haben uns oft über Musik und Schallplatten unterhalten. Jetzt zeigt er mir die kalte Schulter. Die Party ist für mich gelaufen.

 Ich habe 1985 Sonic Youth gesehen. Nach 20 Minuten haben allen Leuten die Ohren geblutet – aber trotzdem waren sie zufrieden.

Ich habe mein halbes Leben lang laute Musik gehört. Punk und Hardcore und extreme Musik, in der Lautstärke ein Stilmittel ist. Ich habe 1985 Sonic Youth gesehen. Nach 20 Minuten haben allen Leuten die Ohren geblutet – aber trotzdem waren sie zufrieden. Es war eben Sonic. Das sollte so. Und wir wollten es. 70 Jahre alte Rhythm & Blues-Platten brauchen hingegen einen anderen Sound.

Am nächsten Morgen kommt Ole aus Göteborg in die Küche: »Warst du gestern im großen Ballsaal? Es war viel zu laut. Ich hab versucht, mit dem DJ zu reden. Er hat nicht auf mich gehört.« Ah, dann ging es also nicht nur mir so. Ich fühle mich wieder besser, irgendwie erleichtert. »Ich bin ­sicher, sie werden heute Ärger von der Camp-Leitung kriegen«, sagt Ole. »Die kriegen auf jeden Fall Ärger! In Schweden ist diese Lautstärke verboten!«