Nationalspieler Toni Kroos hört nach der Fußball-EM auf

Toni Kroos - der Unverstandene

Nach dem EM-Aus für Deutschland beendet Toni Kroos seine Fußball-Karriere. Der Star von Real Madrid hat Fußball mit Verstand gespielt.

»Das Problem ist, dass 95 Prozent der Menschen Fußball mögen, aber nur zwei Prozent wirklich was verstehen.« So Xavi Hernández, einer von Pep Guardiolas Lieblingsspielern beim FC Barcelona, zweifacher Champions-League-Sieger sowie Europa- und Weltmeister. Die Spielweise Xavis und die seines kongenialen Nebenmanns Andrés Iniesta war der von Toni Kroos durchaus ähnlich – auf den ersten Blick nicht spektakulär, aber extrem intelligent. Manche behaupten gar, Toni Kroos sei Xavi und Iniesta in einer Person.

Als Johan Cruyff 2012 gefragt wurde, wer der weltbeste Spieler sei, Lionel Messi oder Xavi, entschied sich der »König« letztlich für den Katalanen Xavi, obwohl der Argen­tinier der spektakulärste Fußballer sei. Cruyff: »Es gibt spektakuläre Spieler wie Messi. Aber wenn man einen Kerl wie Xavi sieht, seinen Umgang mit dem Ball und seinen Spielrhythmus: Er ist ein großar­tiger Fußballer, aber ganz anders als Messi.«

Viele Fans haben Probleme mit Spielern, bei denen Fußball nicht nach harter Maloche aussieht und nicht nach Schweiß riecht.

Xavis Urteil ist sicherlich überzogen, aber völlig daneben liegt er nicht. Überhaupt ist es schwer, die Leistungen von Feldspielern im Fußball zu beurteilen. Fangen wir an mit den Zensuren, die von Journalisten an die Spieler vergeben werden. Gewöhnlich auf der Skala 1 bis 6, das sind elf unterschiedliche Bewertungen: 1, 1,5; 2; 2,5 … Die durchschnittliche Nettospielzeit, also die Zeit, in der der Ball tatsächlich im Spiel und dieses nicht unterbrochen ist, beträgt etwa 55 Minuten. In weniger als einer Stunde will der Beobachter also 22 Akteure (plus Einwechselspieler) mit feinen Abstufungen bewerten können. Der Deutschlehrer benötigt dafür ein komplettes Wochenende – und das Ergebnis bleibt trotzdem umstritten.

Hinzu kommt: Was sieht der Beobachter auf der Pressetribüne und was sieht er nicht? Sieht er von 21 Spielern jederzeit das Spiel ohne Ball? Regis­triert er nur den Pass oder auch den gesamten Kontext des Passes sowie die Kettenreaktion, die dieser auslöst? Verfolgt er lediglich den Lauf des Balls, hat er nur die nächste Station im Blick, oder sieht er auch, wie sich der Passgeber nun positioniert?

Kroos macht einfach das Richtige, und das extrem präzise

Die Leistung eines Torwarts ist einfacher zu bewerten. Drei Flanken abgefangen, zwei Schüsse aus kurzer ­Distanz und einen platzierten Weitschuss pariert, zudem ein Eins-gegen-eins-Duell gewonnen – macht Note 1. Allerdings tut man sich auch hier häufig schwer. Das Mitspielen des Torwarts, seine Beteiligung am Aufbauspiel, seine Antizipation, das Dirigieren seiner Vorderleute wird nicht ausreichend goutiert. Und macht er Letzteres, also das Dirigieren, gut, reduziert dies die Zahl seiner spektakulären Aktionen, was dann aber auf Kosten der Gesamtbe­notung geht. Mehr als die Note 3 ist dann nicht drin.

Und der Stürmer? Der ist 88 Minuten nicht zu sehen, verwandelt aber einen Strafstoß und markiert ein Abstaubertor, und prompt wird dies mit einer 1 belohnt. Arbeitet er gut gegen den Ball, hat er viele Ballkontakte, setzt andere in Szene, aber vergibt eine hundertprozentige Torchance, dann reicht es bestenfalls zu einer 4.

Bei Toni Kroos fällt das Bewerten besonders schwer. Denn Kroos spielt nicht spektakulär – jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Kroos spielt keine fünf Gegenspieler aus, sondern nimmt diese durch ein intelligentes Passspiel aus der Partie. Kroos rennt nicht mit dem Ball am Fuß vom ­eigenen Strafraum bis zum gegnerischen, Kroos grätscht keine Gegenspieler um. Kroos macht einfach extrem häufig das Richtige, und das extrem präzise. Und das Richtige kann auch mal ein Quer- oder Rückpass sein – weil das Scannen des Spielfelds ergibt, dass es vor ihm keinen Adressaten gibt, dass er den Mitspielern Zeit geben muss, sich in eine anspielfähige Position zu begeben.

Mit Real Madrid fünfmal die Champions League gewonnen

Beim Kroos’schen Spiel fallen einem gleich mehrere Weisheiten von Johan Cruyff ein: »Fußball ist ein Spiel für den Kopf«, womit der Niederländer keine Kopfbälle meinte. »Fußballspielen ist sehr einfach. Aber einfachen Fußball zu spielen, ist das Schwerste.« Oder: »Technik bedeutet, den Ball mit einer Berührung zu passen, mit dem richtigen Tempo, in den richtigen Fuß des Spielers.« »Wenn wir den Ball haben, kann der Gegner kein Tor schießen.« »Der Ball wird nicht müde.«

Aber glaubt man dem deutschen Fußball-Stammtisch, dann wurde Real Madrid seit der Saison 2014/2015 von Ahnungslosen regiert. Ahnungslose, die seit zehn Jahren nur zehn Akteure aufs Spielfeld schickten, denn der Elfte, Toni Kroos, machte nur Dinge, die nun wirklich jeder kann. Zehn lange Jahre kamen diese Ahnungslosen nicht auf die Idee, den »Querpass-Toni« auf die Bank zu setzen und eine Alternative zu verpflichten. Zehn Jahre, in denen die »Königlichen« aber trotzdem fünfmal die Champions League gewannen. Im Finale stets mit Toni Kroos am Anstoßkreis.

Dass Toni Kroos in der DFB-Elf nicht immer reüssierte, gehört aber auch zur Wahrheit. Beim WM-Triumph 2014 spielte er stark auf. Nach dem 7:1-Sieg im »Jahrhundertspiel« gegen den Gastgeber Brasilien war man auch in Deutschland endlich geneigt, den Wert des Mittelfeldspielers anzuerkennen. Geneigt, nicht mehr. Viele Fans haben Probleme mit Spielern, bei denen Fußball nicht nach harter Maloche aussieht und nicht nach Schweiß riecht. Auch wird Kroos’ »Körpersprache« moniert, in Deutschland seit jeher ein großes Thema.

Dass Toni Kroos im Nationaltrikot schon mal unter den Erwartungen blieb, hatte auch mit einer falschen Positionierung und falschen Nebenleuten zu tun. 

WM-Helden waren andere: Bastian Schweinsteiger, der sich im Finale eine Platzwunde zugezogen hatte; Manuel Neuer, der in einer Doppelfunktion aus Torwart und Libero die DFB-Elf durchs Achtelfinale gebracht hatte, Kapitän Philipp Lahm und der junge Mario Götze, Schütze des Siegtors im Finale gegen Argentinien.

Vier Jahre später, 2018 in Russland, war Kroos so schwach wie das gesamte Team. Kritik gab es auch aus den eigenen Reihen: Kroos arbeite zu wenig gegen den Ball beziehungsweise nach hinten, außerdem kommuniziere er kaum mit den jungen Spielern.

Aber damals stimmte auch vieles andere nicht: Das Turnier wurde von der Debatte um Mesut Özil und İlkay Gündoğan und deren Fotosession mit dem türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdoğan überschattet, das Austragungsland war nicht populär, das Quartier der Mannschaft falsch gewählt. Vor allem aber: Bundestrainer Jogi Löw war mit einem Kader angereist, der nie eine Mannschaft wurde.

Ein Kader aus arrivierten Weltmeistern und jungen Confed-Cup-Siegern, die irgendwie nicht zueinander passten. In seiner Tiefe war der Kader qualitativ besser als 2014. Dass Qualität in der Tiefe bei ­einem Turnier nicht immer hilfreich ist, hatte der DFB schon 1994 in den USA erlebt. Auch damals schien das Aufgebot insgesamt besser zu sein als beim WM-Gewinn vier Jahre zuvor, schied aber im Viertelfinale aus.

Hinzu kam, und dies gilt über 2018 hinaus: Löw verfügte mit Kroos, Özil und Gündoğan über drei Spieler von Weltklasseformat, aber sie so einzusetzen, dass jeder von ihnen sein volles Potential entfalten konnte, war schwierig – bedingt durch ihre sich teilweise deckenden Vorlieben für Positionen und Räume. Bei der WM 2014 hatte Löw das Problem dadurch gelöst, dass er Özil auf die linke Seite versetzte und Kroos die Zentrale überließ. Özil konnte sein gesamtes Repertoire nicht entfalten, anders als noch vier Jahre zuvor bei der WM in Südafrika, als er Löws »Zehner« war. Damals durfte Kroos nur am Rande mitwirken.

In der Gruppenphase nur neun Minuten, in den K.-o.-Spielen gegen England, Argentinien und Spanien 41, gegen Argentinien 13 Minuten und 28 gegen Spanien. Kroos wurde in diesen Spielen nie für Özil eingewechselt, sondern für die defensiven Mittelfeldakteure Khedira und Schweinsteiger sowie den Außenspieler ­Trochowski.

Dass Toni Kroos im Nationaltrikot schon mal unter den Erwartungen blieb, hatte auch mit einer falschen Positionierung und falschen Nebenleuten zu tun. Oder deren falscher Positionierung. Bei der EM 2021 bekleidete Kroos die »Sechser«-Posi­tion im defensiven Mittelfeld. Gemeinsam mit Gündoğan, der stets leicht vor ihm agierte. Aber die ­beiden Spieler waren sich zu ähnlich, bewegten sich in sich überschneidenden Räumen.

Kroos bildet mit Robert Andrich die »Doppelsechs« 

Und keiner von ihnen war ein »Abräumer«, der im Mittelfeld mit Zweikampfstärke den Ball erobern kann. Kroos bewies zwar, dass er auch den Bereich eines »Sechsers« bespielen kann, aber seine tiefe Positionierung ging auf Kosten seines Einschaltens ins Angriffsspiel. Wenn man das Zusammenwirken von Kroos und Gündoğan mal mit dem von Xavi und Iniesta vergleicht, dann bestand der Unterschied darin, dass diese beim FC Barcelona in einem 4-1-2-3-System offensiver agierten und hinter sich einen »Abräumer« hatten: Sergio Busquets.

Bei der EM 2024 spielen Kroos und Gündoğan wieder zusammen im DFB-Team, aber in anderer Art und Weise. Auf der »Zehn« spielt Gündoğan, während Kroos mit Robert Andrich die »Doppelsechs« bildet, wobei Letzterem (auch) die Aufgabe des Abräumers zukommt. Was auch Gündo­ğan stärker macht, der sich weiter vorne wohler fühlt. Die offensivere Positionierung ähnelt auch mehr der, die er im Vereinsfußball (bis 2023 bei Manchester City und nun beim FC Barcelona) einnimmt. Gündoğan, seit dem vergangenen Jahr auch ­Kapitän der DFB-Auswahl, sagt dazu: »Versetzt können wir uns besser ­ergänzen.« Auf der »Doppelsechs« hätten er und Kroos häufig dasselbe getan und gedacht.

Kroos interpretiert seine Rolle beim Spielaufbau nicht nur zentral, sondern auch von der Position eines Außenverteidigers aus. Anstatt sich zwischen die Innenverteidiger fallen zu lassen, wie es der spielaufbauende »Sechser« gewöhnlich tut, positioniert er sich neben diese und schickt damit gewissermaßen die Außenverteidiger nach vorne.

Nach der EM 2021 schimpfte Uli Hoeneß: »Toni Kroos hat in diesem Fußball nichts mehr verloren.« Kroos sei beim 0:2 im Achtelfinale gegen England nur durch Querpässe aufgefallen. »Bei anderen Teams geht es mit Zug nach vorne, und bei uns wurde quer gespielt, quer gespielt, quer gespielt. (…) Seine Art zu spielen, ist total vorbei.«

In der Saison 2023/2024 überspielte Kroos bei Real im Schnitt 99 Gegenspieler pro Partie, womit er bei diesem Wert die Nummer eins in den Top-Ligen Europas war.

Vielleicht konnte Hoeneß noch immer nicht verknusen, dass er und Karl-Heinz Rummenigge den Wert des Fußballers Toni Kroos krass unterschätzt hatten – und den von Mario Götze überschätzt. Im September 2013 hatte Kroos’ Berater Volker Struth mit den Bayern über eine Verlängerung des noch 20 Monate laufenden Vertrags seines Klienten verhandelt. Struth: »Dummerweise hatten wir völlig unterschiedliche Vorstellungen von seinem Gehalt. Sechs Millionen Euro brutto pro Jahr bot der FC Bayern. Hatten sie vergessen, dass ich wusste, was sie Mario Götze bezahlten? Zehn Millionen verlangte ich.«

Doch für Rummenigge waren »sechs Millionen Euro ein faires Gehalt für Tonis Stellenwert«. Pep Guardiola kämpfte um Kroos: »Ich brauche dich hier.« Im Januar 2014 erhöhte Rummenigge das ­Angebot auf 6,5 Millionen Euro. Aber Struth beharrte auf zehn Millionen. Es ging nicht nur um Geld. Es ging auch um Wertschätzung – und diese drückt sich im Profifußball nun einmal maßgeblich im Gehalt aus.

»Sein Puls liegt bei null«

Vermutlich war Hoeneß aber auch gar nicht dazu in der Lage, den Wert des Spielers Toni Kroos zu erkennen und dessen Pässe richtig zu lesen. Hier half die Entdeckung des »Packing«, eines Analysesystems, das die Anzahl der Spieler ermittelt, die durch einen Pass und einen Spielzug aus dem Spiel genommen werden. In der Saison 2023/2024 überspielte Kroos bei Real im Schnitt 99 Gegenspieler pro Partie, womit er bei diesem Wert die Nummer eins in den Top-Ligen Europas war.

Das Schlusswort sei David Alaba überlassen, der mit Toni Kroos bei den Bayern und bei Real gespielt hat: »Er will immer den Ball, strahlt ­dabei eine unglaubliche Ruhe aus. Ich habe immer das Gefühl, sein Puls liegt bei null. Er reißt das Spiel an sich, bestimmt Tempo und Rhythmus. Dazu hat er die Gabe, nicht nur zu sehen, wo Mitspieler ­stehen, sondern wo sie gleich auftauchen können.«