Das internationale Pandemieabkommen ist vorerst gescheitert, während die Bedrohung durch die Vogelgrippe wächst

Neues Virus, alte Fehler

Die Verhandlungen über ein internationales Pandemieabkommen sind gescheitert, während die Entwicklung des Vogelgrippe-Virus H5N1 die nächste Pandemie anzubahnen droht.

Aus der zurückliegenden Pandemie – deren Ende nach dem Urteil vieler Experten in Zweifel steht – wurde viel gelernt. Zum Beispiel, welche Fehler zu wiederholen sind, wenn die nächste ähnlich katastrophal werden soll. Das industrielle Agrarsystem einschließlich der Massentierhaltung, das ein hervorragender Nährboden für Pandemien ist, sowie die rasante Erderwärmung, die die Ausgangslage zusätzlich verschlimmert, entziehen sich unter den gegebenen Bedingungen einem konsequenten politischen Zugriff. Den Verantwortlichen in den jeweiligen Staaten vorzuwerfen, dass sie auf die Covid-19-Pandemie nicht mit der Errichtung einer demokratischen, ökosozialen Planwirtschaft reagiert haben, wäre also unangebracht.

Doch wie sieht es mit solchen Missständen aus, die zu beheben die Grundsätze der Produktionsweise nicht zu berühren scheint? Angesprochen sind damit etwa die Ausarbeitung detaillierter Handlungspläne für den Fall einer weiteren Pandemie, Investitionen in robuste Gesundheitssysteme, internationale Zusammenarbeit, Patentfreigaben für Impfstoffe und Medikamente, die Versorgung mit medizinischer Schutzausrüstung und natürlich internationale Überwachungsprogramme für pathogens of concern, also Erreger, die eine Pandemie auslösen könnten. Insbesondere die Verteilung notwendiger Utensilien im Kampf gegen eine Pandemie, bei der die ärmeren Länder benachteiligt werden, müsste verändert und verbessert werden. Die Folgen dieser Benachteiligungen suchten während der Covid-19-Pandemie übrigens auch den Westen heim, zum Beispiel in Form neuer Varianten des Virus.

Bereits im Dezember 2021 hat die WHA (World Health Assembly), das Entscheidungsgremium der WHO, angekündigt, sie werde »ein Übereinkommen, Abkommen oder anderes internationales Instrument« ausarbeiten und aushandeln, »um Prävention, Vorsorge und die politische Reaktion auf eine Pandemie zu stärken«. Zur Ausarbeitung ist es gekommen, auch zu einer Aushandlung, im Zuge derer allerdings sämtliche weiterreichenden Forderungen bis zur Belanglosigkeit aufgeweicht wurden. Dass die Verhandlungen nun im Mai 2024 gänzlich abgebrochen wurden, um die Gemüter der reicheren Nationen und ihrer Industrien zu beruhigen, legt eines nahe: Sämtliche Unterlassungen, vermeintliche Fehleinschätzungen, Überforderungen und Einzelaktionen mancher Länder während der Hochphase der Covid-19-Pandemie waren nicht nur Flüchtigkeitsfehler, sondern wohnen dem Kapitalismus als Notwendigkeit inne.

Keine Beschränkung der Eigentumsrechte

Was ist der Inhalt des vorerst gescheiterten Abkommens? Eine Ermächtigung der WHO zu Lockdown-Entscheidungen oder Impfzwang, wie von zweifelhaften Freiheitsfreunden behauptet wird, kommen natürlich nicht vor. Es ist sachlicher Kritik alles andere als zuträglich, dass so viele Verschwörungstheorien über die WHO kursieren. Denn zu kritisieren gibt es einiges, wie die nicht anders denn als bewusste Irreführung zu bezeichnende Behauptung der WHO im ersten Jahr der Pandemie, Covid-19 sei nicht airborne, also nicht über Aerosole übertragbar – eine Behauptung, die die WHO noch verbreitete, als sich die Organisation in ihren eigenen Räumlichkeiten längst um die Installation von Luftfilteranlagen bemühte.

Hinter den ersten Entwürfen gescheiterten Abkommens stand eine milde Version des One-Health-Ansatzes, also der Idee, dass das Wohlergehen von Umwelt, Tieren und Menschen als eine zusammenhängende Angelegenheit begriffen werden sollte, die eine umfassende Problemlösung verlangt. So richtig die Herangehensweise ist, so wirkungslos muss sie in einer Welt bleiben, die den genannten möglichen Zusammenhang gerade dadurch verdunkelt, dass sie jenen zwischen der Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur jeden Tag in der Praxis bestätigt.

Die westlichen Nationen wollten ärmeren südlicheren Ländern zwar eine strengere Überwachung von besorgniserregenden Pathogenen bei Tieren auferlegen, um in weiterer Folge auch Menschen zu schützen. Doch weigerten sie sich, im Gegenzug diesen Ländern im Falle einer weiteren Pandemie nach Bedarf Medikamente, neue Impfstoffe und Ähnliches zukommen zu lassen.

Viele der Erreger haben ihren Ursprung in südlichen Ländern, die bislang bereitwillig Proben geliefert haben. Vom niedrigschwelligen Zugang zu Impfungen und Behandlungen waren diese Länder aber meist abgeschnitten.

Im vorläufig letzten, weiter entschärften Entwurf – bereits der erste war voller vorauseilender Zugeständnisse an die Industriestaaten – ist von Bedarfsdeckung keine Rede; lediglich zehn Prozent aller »pandemiebezogenen Produkte« (Impfung, Behandlung, Diagnostik) sollten der WHO zur freien Verteilung überantwortet werden. Ein starkes Stück – »beschämend und ungerecht«, urteilte die Fachzeitschrift The Lancet. Ein vertretbares moralisches Urteil, wo doch das Aufkaufen und Horten von Impfstoffen über den eigenen Bedarf hinaus, auch durch EU-Staaten, nach einer Studie des Wissenschaftsmagazins Nature für eine Million Todesopfer verantwortlich ist. Warum andererseits, werden Materialisten einwerfen, sollte das ein Anlass für Pharmakonzerne sein, eine Beschränkung ihrer Eigentumsrechte zu akzeptieren?

Die entscheidende Verpflichtung, zu der sich die westlichen Regierungen im Interesse ihrer Pharmakonzerne keinesfalls bereitfinden wollten, nennt sich PABS-System (für Pathogen Access and Benefit Sharing). Der Hintergrund ist, dass Pharmafirmen Zugang zu Erregerproben, Gensequenzierungen oder infizierten Zellen brauchen, um, meist unterstützt mit millionenschweren öffentlichen Subventionen, medizinische Gegenmittel zu entwickeln. Viele der derzeit oder potentiell gefährlichen Erreger haben ihren Ursprung in feuchtheißen, oft afrikanischen Ländern, die bislang bereitwillig Proben geliefert haben. Vom niedrigschwelligen Zugang zu Impfungen und Behandlungen, die dank dieser Proben entwickelt wurden, waren diese Länder aber meist abgeschnitten – oder sie wurden, wie Südafrika, als es erstmals über die im Land grassierende Omikron-Variante von Sars-CoV-2 informierte, mit Reisebeschränkungen belegt.

Ein Zeichen hatte bereits 2007 Indonesien gesetzt, als es sich weigerte, H5N1-Proben (des Erregers der aviären Influenza, der »Vogelgrippe«) zu liefern. PABS hätte der biopharmazeutischen Industrie vorgeschrieben, jährlich eine Summe zu zahlen, um Zugang zu den Daten zu erhalten, sowie die medizinische Produkte zu liefern. Vertreter der Industrie lehnten der Vorschlag unter anderem mit dem Argument ab, er erschwere Innovation. Vielleicht sollten die Konzerne bessere PR-Manager anheuern, legt diese Wortwahl doch offen, dass Innovation und Leid der Menschen im Kapitalismus Hand in Hand gehen.

Die Vogelgrippe breitet sich aus

Letztlich verweigerten die westlichen Staaten sogar einem Rumpfvertrag die Zustimmung, aus dem zu ihren Gunsten schon etliche wichtige Punkte herausgenommen worden waren. So zum Beispiel eine Klausel, welche die Länder dazu auffordert, bei der internationalen Anwerbung von Gesundheitspersonal gewisse Regeln zu beachten. Damit sollte im Falle einer Pandemie vermieden werden, dass Gesundheitsfachkräfte aus ressourcenarmen Ländern in reiche Länder abwandern. Wie in Nature dokumentiert, hatte eine solche Abwerbung von Personal die Reaktion ärmerer Länder auf die Covid-19-Pandemie zusätzlich erschwert.

Das Online-Portal Vox weist auf die Ironie hin, die im Drängen zum Beispiel der US-amerikanischen Vertretung auf freien Zugang zu Pathogenproben liegt, während sie selbst für Verzögerungen beim Bereitstellen von Daten zu H5N1 kritisiert wird. Überhaupt ist der Umgang mit diesem Virus in den USA ein beängstigender Vorschein auf das, was der Welt noch drohen könnte. Die Situation ist höchst unübersichtlich. So sagte Rick Bright, Virologe und ehemaliger Vorsitzender der dem US-Gesundheitsministerium unterstellten Biomedical Advanced Research and Development Authority: »Es gibt so viele Dinge, die wir nicht wissen; uns bereitet eher das Sorge, was wir nicht wissen, als das, was wir wissen.«

Zum ersten Mal war die Welt 1997 auf das H5N1-Virus aufmerksam geworden, als eine Vogelgrippe-Epidemie durch den Geflügelbestand der Zuchtanlagen Hongkongs rauschte; sie konnte damals durch die Tötung von 1,5 Millionen Tieren eingedämmt werden. Bei weiteren Ausbrüchen, die das Pathogen 2003/2004 verursachte, wurde weniger vehement reagiert, was den Anstoß dazu gab, dass sich seither die schlimmste je unter Tieren beobachtete Erkrankungswelle weiter ausbreiten konnte.

Dem Schwan schwant nichts. Ein positives Testergebnis wäre ein Todesurteil

Dem Schwan schwant nichts. Ein positives Testergebnis wäre ein Todesurteil

Bild:
picture alliance / dpa / Christoph Reichwein

Wer sich für die genauen komplexen ökonomischen und sozioökologischen Bedingungen interessiert, unter denen die Vogelgrippe entstand, wird beim Evolutionsbiologen Rob Wallace oder bei dem Sozialhistoriker Mike Davis fündig. Der Einfluss der liberalen Wirtschaftsreformen in Südchina, speziell in der Provinz Guangdong, der Ausweitung industrieller Fleischproduktion, des sukzessiven industriellen Eroberns der Lebensräume von Wildwasservögeln, zudem der Einfluss von Sparmaßnahmen bei der tiermedizinischen Kontrolle sowie der Pathogenüberwachung können gar nicht überschätzt werden. Zwar waren bislang auch immer wieder Säugetiere von Infektionen betroffen, zum Beispiel Schweine, Hunde, Pferde, Tiger, ein Schweinswal oder auch Menschen – bislang sind 889 Infektions- und 463 Todesfälle beim Menschen dokumentiert –, doch was seit März dieses Jahres in den USA geschieht, war bis jetzt unbekannt.

2021 war die H5N1-Variante 2.3.4.4.b in Asien, Afrika, Europa und dem Nahen Osten zur dominanten geworden; in den USA führt sie seit Februar 2022 immer wieder zu Ausbrüchen in den Beständen der Geflügelindustrie. Seither sorgte die Vogelgrippe in den Vereinigten Staaten für den Tod von 96 Millionen Vögeln. Im März 2024 wurde bekannt, dass H5N1 auf Rinder einer Molkereifarm in Texas übergesprungen war und die Tiere auch symptomatisch erkrankten.

Das hatte zuvor noch als äußerst unwahrscheinlich gegolten. Dass sich die Vogelgrippe immer leichter unter Säugetieren verbreitet – die neue Variante befällt unter anderem auch Mäuse, Katzen, Füchse, Stinktiere, Frettchen und Robben – ist grundsätzlich ein Warnsignal, da dadurch eine effektive Infektion des Menschen wahrscheinlicher wird. In den Eutern von Kühen wurden auch Rezeptoren für die humane Influenza nachgewiesen, so dass dort gefährliche Virenmutation entstehen könnten.

Es scheint wieder die Zeit des kapitalistischen Laissez-faire in der Pandemiepolitik gekommen zu sein: Weder finden ernsthafte Versuche der Eindämmung von H5N1 statt, noch wird systematisch getestet.

Mitte Juni wurde das Virus in über 100 Rinderfarmen in zwölf Bundesstaaten der USA nachgewiesen. Katzen auf einer Farm in Texas starben, nachdem sie Milch von infizierten Kühen getrunken hatten; Untersuchungen zeigten eine hohe Virenlast in den Gehirnen und Lungen zweier betroffener Katzen. Dass so viele Tiere unterschiedlichster Spezies, einschließlich der Kühe, schwer an der Vogelgrippe erkranken und auch daran sterben können, dass außerdem oft Multiorganschädigungen (Herz, Lunge, Nieren et cetera) wie auch Gehirnschädigungen auftraten, sind weitere Gründe zur Beunruhigung. Zumal diese gesteigerte Virulenz durch eine Untersuchung von Gensequenzen und neuen Mutationen noch nicht erklärt werden kann, wie etwa Michael Osterholm, Epidemiologe an der Universität Minnesota, betont.

Unter den insgesamt drei Menschen in den USA, die seit April positiv auf H5N1 getestet wurden (Kuh-zu-Mensch-Übertragung), ist auch der Fall eines Farmarbeiters, der leichte Symptome der oberen Atemwege zeigte. Das ist bedenklich, da so die Wahrscheinlichkeit erhöht ist, das Virus von Mensch zu Mensch weiterzuverbreiten. Auch die Symptomatik in den anderen beiden Fällen, nämlich Bindehautentzündung, ist kein Anlass zur Entwarnung. Die Neurowissenschaftlerin Danielle Beckman ergänzte, dass sich bei einem der beiden Infizierten auch eine Blutung im Auge gebildet hatte, und verwies auf Fachliteratur, die das neurodegenerative Potential von H5N1 darlegt.

Doch sind es nicht unbedingt diese Daten, die die mit H5N1 befassten Wissenschaftler so stark beunruhigen; es sind die politische Ignoranz und die daraus resultierenden Wissenslücken. »Zu sagen, wir würden ›mit dem Feuer spielen‹, wäre eine Untertreibung«, kommentiert beispielsweise der führende Epidemiologe Michael Mina.

Keine Eindämmung

Es scheint wieder die Zeit des kapitalistischen Laissez-faire in der Pandemiepolitik gekommen zu sein: Weder finden ernsthafte Versuche der Eindämmung statt noch wird systematisch getestet. Im Idealfall müssten der Viehbestand, die Molkereiarbeiter und ihre Angehörigen (Anfang Juni waren in den USA erst 45 Menschen auf H5N1 getestet worden) und das Arbeitsgerät, vor allem die Melkmaschinen, regelmäßig getestet werden. So aber ist weder das wahre Ausmaß der Welle erkennbar noch können die Übertragungswege genau nachverfolgt werden.

Wegen fehlender serologischer Tests (auf Antikörper) ist auch nicht abzuschätzen, wie viele Menschen sich bereits mit der Vogelgrippe infiziert haben. Molkereibetriebe wehren sich wegen drohender Gewinneinbußen gegen das Testen. Hinzu kommt, dass sich viele der etwa 150.000 Molkereiarbeiter des Landes illegal im Land aufhalten und deshalb gezwungen sind, Kontakt mit Gesundheitsbehörden zu meiden. In Nature erschien im Juni ein Hinweis, den Fokus auch auf diese wieder einmal bedrohten Arbeiter zu legen: »Der Schutz der Arbeitnehmer in der Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie ist von entscheidender Bedeutung. So wie diese Gruppe von Arbeitnehmern aufgrund des Mangels an persönlicher Schutzausrüstung, Tests, Arbeitsplatzerhaltung und Quarantäneentschädigung sowie bezahlbarer medi­zi­nischer Versorgung überproportional unter Covid-19 litten, müssen sie auch bei der Bekämpfung des Ausbruchs der Vogelgrippe an vorderster Front stehen.«

Die gleichen Wissenschaftler, die auf die nach wie vor bestehenden Gefahren von Covid-19 hinweisen und den politische Unwillen zur Pandemiebekämpfung vehement kritisieren, können nun die Untätigkeit der zuständigen Behörden in Bezug auf H5N1 nicht fassen.

Alarmismus ist unangebracht. Selbst der schrillste Alarmismus würde höchstens abstumpfend wirken, da er gar nicht zu erfassen vermag, wie schlimm es tatsächlich kommen könnte. Die gleichen Wissenschaftler, die auf die nach wie vor bestehenden Gefahren von Covid-19 hinweisen und den politische Unwillen zur Pandemiebekämpfung vehement kritisieren, können nun die Untätigkeit der zuständigen Behörden in Bezug auf H5N1 nicht fassen und fühlen sich zu beherzten Appellen genötigt, dass genau jetzt die Zeit zu handeln sei.

Das ungewollt Aufklärerische daran ist interessant, nicht nur die bittere Ironie. Nach aktuellem Stand der gesellschaftlichen Verrohung und Ideologisierung dürften den meisten Menschen diese Wissenschaftler lächerlicher und verächtlicher vorkommen als die Gruppe jener, die in den USA für den seit März um 21 Prozent gestiegenen Absatz von Rohmilch verantwortlich sind – es kursiert der Glaube, der Konsum von Milch, in der die Viren nicht durch Pasteurisierung abgetötet wurden, könne gegen H5N1 immunisieren. Und eine Realität, in der tatsächlich nichts so heroisch und dabei so aussichtslos ist, wie kapitalistische Irrationalität mit pragmatischer Vernunft zu kontern, bestätigt die Irrationalisten auch noch in ihrer Haltung.

Ebenso ist es bezeichnend, dass sich schon die zurückhaltenden, pragmatischen und nicht grundlegend antikapitalistischen Vorschläge zur Verhinderung einer Vogelgrippepandemie, die der Marxist Rob Wallace in seinem 2016 veröffentlichten Buch »Big Farms Make Big Flu« vorbringt, wie bloßer Utopismus anhören: bessere Entschädigungen für Kleinbauern, deren Vieh geschlachtet wird, bessere Überwachung, Wiederaufbau der öffentlichen Gesundheitsversorgung, Abschaffung von Strukturanpassungsprogrammen in den ärmsten Ländern, Schutz von Feuchtbiotopen, also von natürlichen Lebensräumen unter anderem der Wasservögel.

Die Linke hätte die Aufgabe, weiterhin auf die kapitalistische Seuchenproduktion hinzuweisen – ohne (zu erhoffende) kapitalismusimmanente Versuche der Eindämmung nur als Tropfen auf den heißen Stein zu denunzieren. 

Die Macht der Pharmaindustrie, die Interessen der Agrarwirtschaft, letztlich der zerstörerische Verwertungszwang – die trotzkistische World Socialist Web Site bringt es auf den Punkt: »Die Lektion daraus für die Arbeiterklasse ist, dass der private Unternehmensbesitz und das kapitalistische Nationalstaatensystem nicht in der Lage sind, die Menschheit vor künftigen Pandemien zu schützen.« Daran ist alles richtig, bis auf die Kleinigkeit, dass es eine Arbeiterklasse, die den ihr zugedachten Auftrag erfüllen könnte, nicht mehr gibt, und niemand etwas gegen die falsche Lektion ausrichten könnte, die die Bevölkerung längst gelernt hat: Sozialdarwinismus, also das Opfern der Vulnerablen und Schwachen für den Zweck, die Gefährdung der Gesundheit der Stärkeren nicht so unnötig erscheinen zu lassen, ist ein probates Mittel, »gut« durch eine Pandemie zu kommen.

Die Linke hätte die Aufgabe, weiterhin auf die kapitalistische Seuchenproduktion hinzuweisen – ohne (zu erhoffende) kapitalismusimmanente Versuche der Eindämmung nur als Tropfen auf den heißen Stein zu denunzieren. Während der Covid-19-Pandemie endeten fatalistische Kritiker, die zu Recht auf die Entstehungsbedingungen von Seuchen und auf unterfinanzierte Gesundheitssysteme hinwiesen, zu oft in Komplizenschaft mit den Verharmlosern. Vielleicht ist es jetzt schon an der Zeit, sich mit der Frage auseinanderzusetzen: Wird sich, sollte aus der Vogelgrippe tatsächlich eine ähnlich bedrohliche oder eine bedrohlichere Pandemie entstehen, wieder ein restzivilisierter Eindämmungsmodus durchsetzen, der immerhin einen prekären Schutz des verwertbaren Menschenmaterials garantierte?