Die grausame Lust
In einem französischen Magazin des Jahres 1792 fand sich ein anonymer Artikel zum ersten Buch des Marquis de Sade. »Justine oder vom Missgeschick der Tugend«, die traurige Geschichte von der frommen, keuschen und gütigen Bürgerstochter, deren Tugendhaftigkeit mit nichts anderem als der Bosheit der Menschen vergolten wird, war ein Jahr davor ohne Nennung von Verfasser und Verlag erschienen. »Alles«, so der Beginn der Rezension, »was die ausschweifendste Phantasie an Unanständigem, Verfänglichem, ja Ekelhaften erfinden kann, ist in diesem seltsamen Roman angehäuft. Ihr jungen Menschen, so euch die Ausschweifung noch nicht die Herzensreinheit abgestumpft hat, meidet dieses für das Herz wie für die Sinne gleichermaßen gefährliche Buch. Ihr reifen Menschen, die ihr durch Erfahrung und Ruhe aller Leidenschaften jenseits der Gefahr steht, lest es, um zu sehen, wie weit das Delirium der menschlichen Phantasie gehen kann; aber dann werft es sogleich ins Feuer.« Dieses Statement gibt das Entsetzen des damaligen französischen Literatur- und Kulturbetriebs wieder, gekrönt von den Worten des Revolutionsphilosophen Jean-Jacques Rousseau, der gesagt haben soll, dass jedes junge Mädchen, das nur eine Seite dieses Buches gelesen habe, für immer verloren sei. Trotz vielfacher Verdammung, Razzien bei Verlagen und Buchhändlern und wiederholter Beschlagnahme aber erreichte die »Justine« in den nächsten zehn Jahren in Frankreich sechs Auflagen. De Sade bestritt zeitlebens, der Autor zu sein.
Sade selber hat – ähnlich wie später Lautréamont – gesagt, er habe das Böse so drastisch wie möglich beschrieben, um davor zu warnen.
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