Großbritannien nach den Riots

Repressive Reparaturen

Großbritanniens Premierminister David Cameron will die »kaputte und kranke« Gesellschaft reparieren und setzt dabei auf »Big Society« und Law and Order. Trotzdem gibt es Konflikte zwischen der Regierung und der Polizei. Ed Miliband von der Labour Party vergleicht die Plünderer mit Bankern und fordert eine öffentliche Untersuchung der Riots.

»Broken Britain«, ein kaputtes Britannien, hatte Premierminister David Cameron bereits 2008 als Oppositionspolitiker in der zum Murdoch-Konzern gehörenden Zeitung The Sun beklagt. Das Blatt hatte damals in einer Artikelserie unter dem Titel »Broken Britain« alle vermeintlichen Krisen des modernen Großbritannien thematisiert. Da ging es um ausufernden Alkoholkonsum, schwangere Teenager, vernachlässigte Babys, vaterlos erzogene Kinder, antisoziales Verhalten, Gangkultur und Messergewalt. »Broken Britain« stand für ein diffuses Gefühl, dass die Gesellschaft irgendwie nicht mehr richtig funktioniere – also eine klassisch konservative Ideologie, die angesichts von Modernisierungserscheinungen den Verfall traditioneller Werte beklagt.

Nach den jüngsten Riots in England hat Cameron nun den Begriff des kaputten Großbritanniens wieder aufgenommen. »Bereits in meiner ersten Rede als Parteivorsitzender hatte ich meine persönliche Priorität signalisiert: unsere kaputte Gesellschaft zu reparieren. Diese Leidenschaft ist heute stärker als je zuvor«, sagte er am Montag. Er kündigte an, jede einzelne politische Maßnahme der Regierung unter die Lupe zu nehmen, um zu prüfen, ob sie geeignet sei, dem »gesellschaftlichen Zerfall in Zeitlupe« entgegenzuwirken. Soziale Probleme, die seit Jahrzehnten schwelten, seien nun explodiert, sagte der Premier. Noch am Donnerstag voriger Woche hatte Cameron im Parlament behauptet, die Riots seien in erster Linie ein kulturelles Phönomen. Das Problem bestehe in einer Gesellschaft aus »Kindern ohne Väter, Schulen ohne Disziplin und Nachbarschaften ohne Einfluss«. Cameron griff dabei auch die Menschenrechte an. Es sollten keine »künstlichen Menschenrechte« im Wege stehen, wenn Plünderer verfolgt werden. Auch den Gebrauch von Schusswaffen hatte er autorisiert. Am Montag monierte er das »Verdrehen und Falsch­interpretieren der Menschenrechte«, wodurch persönliche Verantwortlichkeit unterminiert worden sei.
Der Sozialdemokrat Ed Miliband hat derweil die Forderung nach einer öffentlichen Unter­suchung der Ausschreitungen wiederholt. David Cameron hatte eine solche Untersuchung ab­gelehnt und darauf verwiesen, dass der Innenausschuss des Parlaments im September eine Untersuchung beginnen werde. Miliband warf dem Premierminister reflexhaftes Handeln vor, das der Schwere der Krise nicht gerecht werde. Er kritisierte auch Camerons Betonung der kulturellen Dimension der Riots. Sicher gebe es ein Verantwortungsproblem, so der Oppositionsführer, allerdings nicht bloß bei Eltern und Jugendlichen. Was im Bankensystem passiert sei oder beim Telefon-Hacking, sei zwar nicht das Gleiche wie Plündern, aber da gehe es auch um Verantwortung. So ähnlich argumentieren derzeit viele Linke in Großbritannien, die die Plünderungen in den Kontext der Bailouts für die Banken stellen, in denen Milliarden von Pfund aus staatlichen in private Kassen umgeleitet worden seien – sozusagen eine Plünderung öffentlicher Kassen. Miliband kündigte an, dass die Labour Party selbst eine öffentliche Untersuchung der Riots veranlassen werde, falls die Regierung dies nicht tue. Er habe mit Vertretern der betroffenen Nachbarschaften geredet, und diese wollten Gelegenheit haben, zu Wort zu kommen.

Die Liberaldemokraten haben sich nur sehr zurückhaltend von den Reaktionen der Konservativen distanziert, mit denen zusammen sie die Regierung stellen. Liberaldemokraten kritisierten das Vorgehen von staatlichen Wohnungsbaugesellschaften, die begonnen haben, Familien von verurteilten Straftätern aus ihren Wohnungen zu werfen. In Südlondon wurde der Mutter eines im Schnellverfahren verurteilten 18jährigen Plünderers, die mit diesem in einer Sozialwohnung lebt, der Mietvertrag gekündigt und ein Räumungsbefehl zugeschickt.
Viele Konservative befürworten diese Maßnahmen. Dagegen argumentieren führende Liberaldemokraten, es verstoße gegen elementare Rechtsprinzipien, ganze Familien für das Verhalten einzelner Familienmitglieder zu bestrafen. Und als der konservative Finanzminister George Osborne am Wochenende seine Kritik an dem von Labour eingeführten Spitzensteuersatz von 50 Prozent wiederholte und ankündigte, dass er diesen senken wolle, um London für die internationale Finanzwirtschaft attraktiver zu machen, gab es Kritik aus seinem eigenen Ministerium. Ausgerechnet sein Staatssekretär Danny Alexander von den Liberaldemokraten erklärte, Befürworter einer Steuererleichterung für Reiche lebten in einem »Wolkenkuckucksheim«.
Cameron propagierte unterdessen erneut Law and Order als Antwort auf die Unruhen. Er kündigte an, sich in Polizeifragen künftig von Bill Bratton beraten zu lassen. Der Amerikaner gilt in der britischen Öffentlichkeit als »Super-Cop«. Als Polizeichef hatte er in den neunziger Jahren in einer Reihe von amerikanischen Städten, unter anderem in New York City, mit umstrittenen Methoden, unter anderem der sogenannten Zero-Tolerance-Politik, die Kriminalitätsraten gesenkt. Auch in Los Angeles kam er nach den Unruhen von South Central 1992 zum Einsatz. Bratton war vorige Woche in London sogar für den Posten des Polizeipräsidenten der London Metropolitan Police (Met) in den Medien gehandelt worden, doch Innenministerin Teresa May dementierte am Wochenende solche Überlegungen. Denn die Berufung des amerikanischen »Super-Cops« kam bei der britischen Polizei nicht gut an. Sir Hugh Odre, Vorsitzender der »Association of Chief Police Officers« und selbst Kandidat für den Posten des Polizeipräsidenten bei der Met, erklärte, die englischen Gangs seien nicht mit den amerikanischen zu vergleichen. Dort würden Polizisten mit Schrotflinten auf Patrouille gehen, eine für Großbritannien undenkbare Situation. Kritik kam auch von den Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft in London und Manchester. Die Polizei empfindet die Berufung von amerikanischen Experten als »Schlag ins Gesicht«.

Die Beziehung zwischen der Polizei und der Regierung hat seit den Riots einen neuen Tiefpunkt erreicht, aber sie war ohnehin schon lange gestört. Im Zuge der Sparmaßnahmen soll die britische Polizei in den kommenden drei Jahren rund 20 Prozent ihres Budgets einsparen. Bereits vor den Riots hatten Polizeisprecher gewarnt, dass die massiven Kürzungen die Fähigkeit der Polizei, soziale Unruhen und Proteste zu befrieden, einschränken könnten. Nach den Ausschreitungen bestanden Politiker der Regierungskoa­lition darauf, dass trotz der Sparmaßnahmen am Ende mehr Polizisten als jetzt auf der Straße sein müssten. Der stellvertretende Premierminister Nick Clegg von den Liberaldemokraten erklärte, nur acht Prozent der Polizisten arbeiteten gegenwärtig »auf der Straße«, die Bürokratie sei zu groß und werde durch die Sparmaßnahmen abgebaut.
Zank zwischen Regierung und Polizei gibt es auch ganz konkret hinsichtlich des Verlaufs der Riots. So behauptete Cameron, dass Polizeichefs die Situation anfangs falsch bewertet hätten und nicht entschieden genug eingeschritten seien, als die Plünderungen eskalierten. Der kommissarische Polizeipräsident der Met, Tim Goldwin, kritisierte hin­gegen unklare Vorgaben aus dem Innenministerium. Der Premierminister, der wie auch die Innenministerin May während der Krawalle zunächst im Urlaub war, verkündete nach seiner Rückkehr die Ausweitung des Polizeieinsatzes auf 16 000 Polizisten allein in London. Danach hat sich die Situation in der Hauptstadt beruhigt. Cameron hat im Parlament den Eindruck erweckt, dies sei seiner Initiative zu verdanken, zum Unmut der Polizei, die ihrerseits behauptet hat, für die strategische Neuausrichtung verantwortlich gewesen zu sein.

Die Riots verschärfen zudem die Krise der London Metropolitan Police, die durch den Rücktritt von drei Spitzenfunktionären wegen Korruption im Zuge des Skandals um die Abhörpraktiken der Zeitung News of the World bereits heftig kritisiert worden war. Hinzu kommt als Problem für die Polizei die Tötung des 29jährigen Marc Duggan, die die Unruhen auslöste. Duggan war bei einer Polizeikontrolle erschossen worden. Nach dem Vorfall hatte weder die Polizei noch die sogenannte Unabhängige Kommission für Po­lizeibeschwerden (IPCC), die automatisch in die Untersuchung eingeschaltet wurde, der Öffentlichkeit oder der Familie mitgeteilt, was bei der Kontrolle vorgefallen war. Die IPCC verbreitete in einer ersten Stellungnahme sogar den Eindruck, dass Duggan zuerst auf die Polizisten geschossen habe. Am Montag entschuldigte sich die IPCC für das »Missverständnis« und bestätigte, dass Duggan zwar eine Waffe getragen, diese aber nicht benutzt habe. Geschossen habe, so die IPCC am Montag, nur die Polizei. Unklar bleibt weiterhin, was genau bei der Kontrolle geschah. Die Umstände sind dubios. Auch ein Polizist wurde von einer Polizeikugel getroffen und überlebte nur, weil sein Funkgerät die Kugel abfing. Die Familie Duggans erklärte, sie habe keinerlei Vertrauen in die Polizei oder die IPCC, und teilt damit wohl auch eine entscheidende Haltung derjenigen, die am Samstag vor zwei Wochen die ersten Riots begannen.