Bewegen, aber richtig
Von der Linken als Resonanzraum heiß begehrt, von der Sozialforschung vermessen und katalogisiert, von der Politikberatung als bürgerschaftliches Engagement gepriesen und von den Parteien als Fußvolk umworben: Soziale Bewegungen – das ist die Organisationsform, in der sich seit ’68 Protest jenseits von Staat und Parlament artikuliert. Inwieweit heute soziale Bewegungen noch eine Rolle spielen oder vielleicht wieder spielen könnten, damit beschäftigen sich Bewegungsaktivisten, ‑forscher und -strategen in einem Band mit dem etwas spröden Titel »Soziale Bewegungen im globalisierten Kapitalismus«.
Die Herausgeber sitzen allerdings gleich im Vorwort einmal mehr einem Missverständnis auf, wenn sie das Stück von Fehlfarben mit dem Titel »Es geht voran« als kennzeichnend für die Blütezeit sozialer Bewegungen in den Achtzigern benutzen. Das geht haarscharf am damaligen Lebensgefühl vorbei; Sänger Peter Hein wird bis heute nicht müde zu betonen, dass das Stück so optimistisch nicht gemeint war. Vielleicht führt diese Fehlinterpretation aber auf die richtige Fährte: Grüne wie Autonome, die »Erben der Neuen Linken«, so Thomas Seibert in seinem Beitrag, ebneten den Unterschied zwischen politischer Linker und sozialer Bewegung ein und identifizierten sich mit den jeweiligen Bewegungen selbst – und gerade das macht bis heute ihre Handlungsunfähigkeit aus, zwischen dem Stehen im Abseits und dem bloßem Mitmachen um der Bewegung willen.
Auch die Behauptung aus dem Vorwort, soziale Bewegungen stünden »außerhalb konventioneller Organisierung«, vermag Thomas Seibert angesichts neuer Assoziationsformen der globalen Multitude in Frage zu stellen. Überhaupt möchte er am liebsten die Organisationsfrage neu diskutieren. Die Neue Linke sei letztlich an diesem Problem gescheitert, heute herrsche eine Krise der politischen Repräsentation vor, auf die auch Modelle, wie sie die sozialen Bewegungen praktizieren, keine Antworten bieten würden. Das Attac-Netzwerk, so kritikwürdig es sein mag, ist auch als Reaktion auf diese Krise zu verstehen. Ob es sich dabei allerdings um einen »neuartigen Typus der Organisierung« handelt, muss bezweifelt werden. Wenn auch Attac weder Partei noch NGO, soziale Bewegung oder Dachverband ist, so vereinigt diese Gruppierung doch Elemente dieser verschiedenen Organisationsformen in sich.
Während Seibert sich maßgeblich mit der Rolle der Linken innerhalb sozialer Bewegungen auseinandersetzt, verdeutlicht Marianne Gronemeyer, dass diese eben auch als Betätigungsfeld des liberalen Bürgertums angesehen werden können und insofern weniger linksradikale denn bürgerliche Politikformen bevorzugen: »Entlarvung, Veröffentlichung, Aufdeckung, Skandalisierung ist ihr Operationsbesteck in den siebziger und achtziger Jahren gewesen.« Aber selbst das scheint nicht mehr zu funktionieren: »Die neue Offenheit, der modernisierte Zynismus, hat die Öffentlichkeit der sozialen Bewegungen beschlagnahmt, ihren Spiel-Raum, ihre Bühne zum Verschwinden gebracht.« Soziale Bewegungen leiden darunter, dass die gewohnte Ordnung auf der politischen Bühne im Verschwinden begriffen ist: Liberales Bürgertum, Sozialdemokratie, radikale Linke, keines dieser Lager existiert noch in Reinform, insofern nötigt die politische Praxis zum permanenten Hin und Her zwischen Radikalismus und Reformismus, und die Frage, ob diese Begrifflichkeiten überhaupt noch aufrechterhalten werden können, kommt auf.
Auf einmal steht das Konzept des Radikalen Reformismus, das der Frankfurter Politologe Joachim Hirsch bereits in den Achtzigern propagiert hat, wieder zur Debatte; hier interessanterweise von Wolf Wetzel, dem »Weizsäcker der Autonomen«, wie ihn konkret einmal spöttisch-liebevoll titulierte, ins Gespräch gebracht. Ähnlich, wie im Fordismus Sozialleistungen erst erkämpft werden mussten, gehe es heute auch darum, in konkreten Kämpfen um die soziale Frage herauszubekommen, wie weit man gehen kann. Wetzel will insofern auch alte Wege sozialer Bewegungen der letzten Dekaden verlassen: »Ein politischer Prozess, der Verbesserungen innerhalb des Bestehenden mit der radikalen Kritik des Bestehenden in Berührung bringt, böte die Chance, das Niemandsland zwischen grundsätzlicher Kritik und realpolitischen Verbesserungen zu betreten und fruchtbar zu machen.«
Jenseits dieser doch recht allgemeinen Einschätzungen geht es Rolf Engelke, ähnlich wie auch Reimar Paul in seinem Beitrag über die Antiatomkraftbewegung, um eine konkrete Protestgeschichte. Er beschreibt die Entwicklung des Widerstands gegen den Frankfurter Flughafen, von den ersten Aktionen in den Fünfzigern über die Bewegung gegen den Bau der Startbahn 18 West bis hin zu den aktuellen Plänen in Sachen erneutem Flughafenausbau. Die diskontinuierliche Entwicklung der verschiedenten Initiativen und Gruppen, von Grundstücksbesitzern, die um den Wertverfall ihres Besitzes fürchten, über Abschiebungsgegner bis hin zu Globalisierungskritikern, die die Global-City-Pläne Frankfurts unter die Lupe nehmen, führt Engelke zu fünf Thesen zum Startbahnprotest: Er ist kein Kristallisationspunkt emanzipativer sozialer Bewegungen mehr, die Forderungen sind eindeutig von lokalen Interessen bestimmt, es gibt mangelnde Erfahrungen und vor allem mangelnde Bereitschaft zu aktionsbezogenem Handeln, zudem herrschten eine blinde Justizgläubigkeit wie ein deutlicher Pragmatismus und eine Entradikalisierung vor.
Und was heißt das nun für soziale Bewegungen im Allgemeinen? Sie werden zwar immer noch als Wundermittel gegen »verkürzte Kapitalismuskritik« und gegen ein »etatistisches Politikverständnis« angepriesen, ihre Geschichte, ihre Erfahrungen und ihre Kämpfe haben aber schon lange Staatspolitik mitbeeinflusst – gerade diese Entwicklung bedarf der Aufarbeitung. Dieses Buch macht einen Anfang.
Rolf Engelke, Thomas Klein, Michael Wilk (Hg.): Soziale Bewegungen im globalisierten Kapitalismus. Bedingungen für emanzipative Politik zwischen Konfrontation und Anpassung. Trotzdem Verlag, Grafenau/Frankfurt am Main 2005, 144 Seiten, 12 Euro