Es geht voran

Nach langer Pause bringt das Jazzkollektiv Art Ensemble of Chicago mal wieder eine neue Platte heraus. von felix klopotek

Man kann als Jazzmusiker alt werden und immer noch gute Platten veröffentlichen. Diese simple Aussage drückt aus, warum in aufgeschlossenen Pop- und Rockkreisen Jazz als ein derart magisches Reservoir unendlich cooler Sounds und Gesten verstanden wird. Denn wie lange bleibt ein Popstar (ein Indierock-Held, eine Punklegende etc.) frisch? Fünf Jahre? Zehn? Zwanzig? Selbst den großen Ausnahmen, Bob Dylan, Neil Young, Lou Reed, ist im Herbst ihrer Karrieren, wenn es hoch kommt, jeweils ein richtig gutes Album gelungen. Im Jazz ist das nicht so, hat ein 70jähriger Cecil Taylor immer noch mehr Energie in der linken Hand als eine Generation von Punkbands, ist ein neues Album von Andrew Hill strukturell avancierter als alles, was in den letzten Jahren unter Postrock firmierte, und war der bereits schwer kranke, fast 80jährige Sun Ra einfallsreicher und visionärer als alle Funkbands der letzten 20 Jahre.

Womit wir schon beim Art Ensemble of Chicago wären. Wenn es eine Gruppe gibt, die ebenso strukturell reflektiert wie improvisatorisch verschwenderisch gearbeitet hat, dann ist es das Art Ensemble. Seine Konzerte waren immer zugleich Potlatch und Oberseminar, Free-Jazz-Ekstase und Reflexion der Ekstase. 1966 gründete der damals 26jährige Saxophonist Roscoe Mitchell das Art Ensemble, es war eine der ersten Gruppen, die aus der Association for Advancement of Creative Musicians hervorging. Die AACM hatte ein Jahr zuvor in Chicago ihre Arbeit aufgenommen, eine schwarze Musikerorganisation, die sich der Pflege der freien Musik und einer für damalige Verhältnisse radikalen Autonomie – selbst organisierte Konzerte, selbst produzierte Tonträger, Einrichtung einer eigenen Musikschule – verschrieben hatte. Als der Trompeter Lester Bowie auf der Suche nach Gleichgesinnten 1966 in eine AACM-Versammlung platzte, rief er aus: »I never in my life met so many insane people in one room!« Er hatte seine Leute gefunden.

Der Kern des Art Ensembles schälte sich schnell heraus: Neben Mitchell waren das Bowie, Joseph Jarman als zweiter Saxophonist und Malachi Favors Maghostut am Bass. Auf einen festen Schlagzeuger verzichteten sie vorläufig, dafür setzten sie auf eine radikale Erweiterung des Instrumentariums: Mit zahllosen kleinen Percussioninstrumenten und eher bizarren Gegenständen wie Trillerpfeifen, Autohupen und Sirenen stellten sie die Konzertbühnen voll. 1969 siedelte die Gruppe für zwei Jahre nach Paris über, im Juni desselben Jahres kündigte ein Veranstalter sie als Art Ensemble of Chicago an. 1970 stieß der Schlagzeuger Famoudou Don Moye hinzu, damit war die Besetzung für die nächsten 25 Jahre gefunden.

Über den Hyperproduktivismus der Band ist viel gesprochen worden. Dieser gebar stundenlange Konzerte, in denen von souligen Schmachtfetzen bis zu völlig disparatem Percussion-Geklöppel alles zu hören war, afrozentrische Bühnenkostümierung inkl. Kriegsbemalung, extremen Multiinstrumentalismus und unzählige Platten. Allein in ihrer Pariser Zeit nahm die Gruppe 15 Alben auf.

Möglich war das alles durch die perfekt ausbalancierte Gruppenstruktur, die vier respektive fünf Exzentriker in Schach hielt: Mitchell gab den unterkühlten Anzugträger, dessen Soli gerne in der schier endlosen Repetition eines winzigen Motivs bestanden, Bowie war der Showmaster, ein Großmaul und Popliebhaber, Jarman der hemmungslose Eklektiker und Esoteriker (er verließ die Gruppe 1993, um sich in ein buddhistisches Kloster zurückzuziehen), Moye der Polyrhythmiker und Favors der ruhende Pol. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner: »Great Black Music«. Das gesamte Musikgut der schwarzen Diaspora wurde Bestandteil ihres Repertoires und sollte in neue, hochgradig verdichtete Form gebracht werden. Ihre Musik, weder an irgendwelchen Retroeffekten noch an Futurismus interessiert, wurde Ausdruck radikaler Gegenwärtigkeit.

Bis Mitte der achtziger Jahre hielt das Ensemble sein Tempo schadlos durch, dann bröckelte das Bandgefüge. Bowie wollte tatsächlich so etwas wie ein Popstar werden, Mitchell konzentrierte sich auf seine eigenen Ensembles, Jarman verkroch sich in seine Räucherstäbchenhölle und Favors war schließlich der Letzte, der noch in Chicago lebte. Ab und an tourten sie noch gemeinsam, hin und wieder veröffentlichten sie eine mittelprächtige CD, zuletzt war das ein Album (bereits ohne Jarman), auf dem sie Werbejingles, die sie für eine Orangensaftmarke (!) eingespielt hatten, zu Songs auswalzten. Ein bemerkenswert belangloses Album: witzige Musik, aber einer Band vom Format des Art Ensembles recht unwürdig. Immerhin: Das Album sollte der Startschuss für eine Phase der wieder intensivierten Zusammenarbeit sein. Dazu kam es jedoch nicht, im November 1999 starb Bowie an Krebs, wenige Wochen zuvor hatte er mit der Gruppe seinen letzten Auftritt gegeben.

Vier Jahre später gibt es nun ein neues Album: »Tribute to Lester«. Es ist ein Jazz-Album geworden, in dem Sinne, dass es von Kontinuität, einem ausgereiften Formbewusstsein und Gestaltungswillen zeugt. Es ist also ein gutes Album, sauber gearbeitet, den Solisten viel Platz einräumend und die musikalische Mehrdimensionalität – BeBop, afrikanische Percussion-Konzerte, swingende Balladen, radikale Improvisation – frei entfaltend. Den drei übrig Gebliebenen, Mitchell, Favors, Moye, ist bewusst, dass sie es nicht mehr sind, die die Great Black Music formulieren und zeitgemäß zum Ausdruck bringen. Durch ihren jahrzehntelangen, mithin sehr ausdauernden Radikalismus sind sie selbst Geschichte geworden.

Die Abwesenheit Bowies macht das bewusst. Indem sie ihm huldigen, zitieren sie ihre eigene Geschichte. Das ist eine realistische Haltung, und natürlich auch eine coole: Denn im Gegensatz zu Bowie, der bis zum Schluss der neokonservativen Clique um den Jazztrompeter Wynton Marsalis die Stirn bieten wollte, demonstriert die Gruppe eindrucksvoll, dass sie niemandem mehr etwas beweisen muss.

Während man dann dem fast schon getragenen Vortrag der Musik nachhängt, trudelt die Meldung ein, dass Joseph Jarman sein Klosterexil verlassen hat. Er wollte ja nie das Musikmachen aufgeben, heißt es, sondern nur ein bisschen Pause machen. Seit Anfang des Jahres ist dieser große Neurotiker wieder mit dem Art Ensemble unterwegs. Manchmal wird die Geschichte doch noch fortgeschrieben.

Art Ensemble of Chicago, »Tribute to Lester« (ECM 1808)