Klassenkampf jetzt!

Die Maßnahmen der Agenda 2010 kommen. Welche Möglichkeiten bleiben den Gegnern des Sozialabbaus? Was tun? Teil II

Kriegserklärung

Die Klassengesellschaft wurde für tot erklärt. Doch in Wirklichkeit werden die einen immer reicher und die anderen immer ärmer. Zehn Prozent der Deutschen verfügen über 50 Prozent des gesamten Geldvermögens, ein halbes Prozent gar über ein Viertel davon. Das ist die Klassengesellschaft, die nun mit einer neuen Brutalität gegen die abhängig Beschäftigten vorgeht.

In Deutschland geschieht dies ungestörter als anderswo. In unseren Nachbarländern kommt es zu Generalstreiks und gehen Millionen gegen die soziale Demontage auf die Straße, hier »opfern« nur etwa 100 000 Menschen ihren Samstag, um sich an den Protestaktionen zu beteiligen. Und das ist das Hauptproblem, mit dem wir, ArbeitnehmerInnen, Erwerbslose und die anderen Opfer der Agenda 2010, uns konfrontiert sehen. 200 000 MigrantInnen aus Ländern, die nicht der EU angehören, könnten beispielsweise ausgewiesen werden, weil sie in die Sozialhilfe gedrängt werden.

Die einen denunzieren die Gewerkschaften als »Blockierer«, die anderen werfen ihnen vor, dass zu wenig gegen den Sozialabbau getan wird. Tatsächlich wird zu wenig getan. Ein Teil der GewerkschafterInnen kann sich offensichtlich nicht von einer nahe stehenden Partei lösen. Es gelingt zurzeit nicht, einen schärferen Widerstand zu organisieren. Die Agenda 2010 bedeutet Sozialabbau, Abbau der Rechte der Beschäftigten und Senkung der Löhne, und trotzdem schweigt oder stimmt die überwiegende Mehrheit zu.

Es wird nur dann zu entschiedenem Widerstand kommen, wenn aus den Gewerkschaften wirkliche Einheitsgewerkschaften werden, nämlich unabhängig von staatlichen und parteipolitischen Interessen agierende Gewerkschaften, und wenn die Mitglieder und Funktionäre, die Haupt- und Ehrenamtlichen sich vom Stellvertreterdenken verabschieden. Außerdem müssen die Menschen über die Auswirkungen der Agenda 2010 aufgeklärt werden. Wer weiß denn, dass durch die verschiedenen Maßnahmen die Patienten mit 7,6 Milliarden Euro belastet werden sollen, während die Unternehmer von zehn Milliarden Euro entlastet werden?

Das Triumvirat der Modernisierung, die Bundesregierung, die Unternehmerverbände und die rechtsliberale Opposition, will die Freiheit der Beschäftigten einschränken, damit die Profite der Unternehmer wachsen. Der Metro-Gründer Beisheim etwa konnte im vorigen Jahr sein Vermögen auf 4,3 Milliarden Euro steigern – eine Zunahme von über 16 Prozent. Die Gebrüder Albrecht, die Besitzer der Aldi-Kette, belegen Platz eins und zwei auf der Skala der reichsten Deutschen. Zusammen haben sie im vergangenen Jahr ihr Vermögen von 27 Milliarden Euro auf 28 Milliarden Euro erhöht. Nummer zehn ist mit 4,7 Milliarden Euro der SAP-Mitbegründer Hasso Plattner. Käme die Vermögenssteuer, weint der Mann öffentlich, müsse er sich von seinen SAP-Aktien trennen und sich ins Privatleben zurückziehen. Doch viele glauben dem Triumvirat und meinen, die Erwerbslosen müssten zur Arbeit gezwungen werden.

Zwar gibt es Differenzen zwischen der Union, der FDP und der Bundesregierung. Doch die Unterschiede erinnern stark an die Blockparteien in der DDR. Die Antwort müsste ein etwas anderer 17. Juni sein. Doch ob es dazu kommt, hängt davon ab, ob die Geduld der Betroffenen endlich endet und aus dem Vertrauen auf die Führung ein Vertrauen auf die eigene Kraft wird.

angelo lucifero

Klasse: Kämpfe!

Die radikale Linke steht vor einem Scherbenhaufen und gibt sich unschuldig. Sie jammert über deutsche Verhältnisse und gleichzeitig wollen viele von Klassenkämpfen nichts mehr wissen. Sozialer Widerstand und Kämpfe seien keine Garantie für Emanzipation, sagen sie. Eine Binsenweisheit, sollte man meinen. Statt genau hier den Ort für das eigene Handeln zu sehen, haben viele ihn bei sich selbst gefunden. Statt eine emanzipatorische, klassenkämpferische Politik zu entwickeln, steht die moralische und politische Integrität auf der Tagesordnung. Diese ist der Maßstab für jeden Bezug auf soziale Bewegungen. Die bürgerliche Biederkeit, der bessere Mensch sein zu wollen, wird der Begierde nach Emanzipation vorgezogen.

Ein Großteil der radikalen Linken beschränkt sich auf Ideologiekritik und halluziniert von einer wesenhaften und hermetischen deutschen Volksgemeinschaft, die sich ohne Brüche und Widersprüche immer wieder selbst herstelle. Grundlage und zugleich eine Folge dieses Verständnisses ist die Abwesenheit der radikalen Linken im Alltag. Aber genau hier entstehen die dominanten Vorstellungen. Rassismus, Nationalismus und Wohlstandschauvinismus haben im Alltag ihren Ausgangspunkt und werden von den politischen Eliten aufgegriffen. Dass weite Teile der Linken Konfrontationen im Alltag nicht mehr suchen wollen, sondern als Anbiederung an den »deutschen Mob« denunzieren, ist eine Ursache, warum wir vor einem Scherbenhaufen stehen.

In Situationen, in welchen ohne sichtlichen Widerstand etwa die Agenda 2010 durchgesetzt wird, kommt die Unfähigkeit der radikalen Linken zum Ausdruck. So wird seit Jahren in der linken Presse, die kaum noch Bindungen an real existierende Gruppen und Organisationen hat, der Selbstbezüglichkeit gefrönt. Ohne jeglichen Bezug zur alltäglichen Realität werden scheinbare »Experten der Praxis« nach dem »Was tun?!« befragt. Der immer noch ausstehende Bruch zwischen den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie sowie die Rolle von Attac als politisches Auffangbecken sind insofern ein »Verdienst« der radikalen Linken, die den Klassenkampf nur als Herrschaftsprojekt »soziale Frage« behandeln kann.

Das erste und einzige, was zurzeit zu tun ist, wäre sich überhaupt wieder mit sozialen Kämpfen auseinanderzusetzen und sich auf Grundlage der Bedingungen in das Experiment der emanzipatorischen Praxis zu stürzen. Erst dann wären weitere Schritte denkbar. Ohne ein Wissen um die deutschen Verhältnisse können sie auch nicht umgestürzt werden. In letzter Zeit ist »die Idee des Kommunismus« – wohl in dem Wissen, dass wir von ihm weiter entfernt sind denn je – wieder zur Parole avanciert. Wer aber vom Klassenkampf nicht reden will, sollte vor allem eines tun: vom Kommunismus schweigen!

für eine linke strömung (fels) /

ag sozialer widerstand

International denken

Auch in den Gewerkschaften fabulieren manche von »funktionierender Wettbewerbswirtschaft« und vom »aktivierenden Sozialstaat« wie etwa Klaus Lang aus dem Vorstand der IG Metall. Dennoch werden die Gewerkschaften als »Bremser« stigmatisiert, was alle trifft, die an der Idee einer solidarischen Politik festhalten.

Für das Denken der sozialen Gerechtigkeit in einer internationalen Perspektive gibt es gegenwärtig so wenig Rezepte wie es Chancen gibt, die Verwirklichung der Agenda 2010 zu verhindern. Das heißt nicht, dass wir auf den Anspruch, etwas verändern zu wollen, verzichten sollten, wir machen uns nur keine Illusionen. Wenn man das Denken der gesamten politischen Klasse gegen sich hat, dann kommt es darauf an, die ganze Richtung der Politik zu ändern.

Man muss eine neue gesellschaftliche Debatte auslösen. Und das heißt zuallererst, darauf hinzuweisen, dass genug Reichtum da ist, damit alle ein ordentliches Leben führen könnten. Das kann man auch in konkreten Forderungen ausdrücken, die aber eben nicht taktisch auf eine tagespolitische Realisierbarkeit zurechtgestutzt sind.

Eine Forderung könnte lauten: Raus aus jeglichem Standortwettbewerb! Harte Umweltauflagen und Unternehmenssteuern müssen her, das Arbeitsrecht und der Arbeitsschutz durchgesetzt werden! Wo immer Kämpfe für die tatsächliche Verbesserung von Lebenssituationen stattfinden, sollte man sie unterstützen. Gegen den Niedriglohnsektor, gegen die Zwangsarbeit, öffentliche Räume und Einrichtungen müssen zurückerobert werden. Jede Forderung nach Belastung derer, die in den letzten Jahrzehnten reich beschenkt wurden, ist richtig: Vermögensteuern, völlige Beseitigung jeglicher Beitragsbemessungs- und Pflichtversicherungsgrenzen, Einbeziehung sämtlicher Einkommen in Steuer und Sozialsysteme.

Was die Nord-Süd-Perspektive betrifft: Die Schulden sind ungerecht, sie gehören bedingungslos erlassen. Die endlich in Gang gekommene internationale Diskussion über die Menschenrechte muss auf die Unternehmen ausgeweitet werden. So wie es richtig ist, Diktatoren im Norden vor Gericht zu stellen, wenn es bei denen zu Hause nicht geht, so müssen auch Unternehmen sich hier für das verantworten, was sie woanders anrichten. Das Recht von Menschen, dort ein besseres Leben zu suchen, wo sie es zu finden hoffen, muss anerkannt werden.

Ebenfalls unter dem Nord-Süd-Gesichtspunkt, aber auch aus finanziellen und ethischen Gründen, muss Schluss gemacht werden mit allen destruktiven Technologien: mit der Rüstung, der Gentechnik, der Atomtechnologie. Das bedeutet die sofortige Einstellung aller staatlichen Ausgaben für diese Destruktivkräfte; finanzielle Heranziehung der Betreiber, auch der ausländischen, für sämtliche von ihnen angerichteten Schäden und zur Abdeckung künftiger Risiken; Nutzung der frei gewordenen Mittel für die Entwicklung und den Aufbau von zukunftsfähigen Projekten.

Das alles mag illusionär klingen, aber es ist gegenwärtig nicht illusionärer als die Forderung nach der 35-Stunden-Woche für alle oder einer alle Krankheitsrisiken absichernden Krankenversicherung. Dafür BündnispartnerInnen zu finden, ist nicht einfach. Sie wären zu suchen in den Gewerkschaften, den Kirchen, den Sozialverbänden und in Menschenrechtsgruppen, auch wenn viele dort an der absurden Idee festhalten, Anschlussfähigkeit an die Regierungspolitik bewahren zu müssen.

Es werden also nur Teile dieser Organisationen sein, die sich für eine solidarische Politik gewinnen lassen. Die vielen Opfer des neoliberalen Kahlschlags haben sich bisher ebenfalls nicht zusammengefunden. Eine neue gesellschaftliche Debatte müsste also darauf zielen, diese vereinzelten Segmente zusammenzubringen und zu gemeinsamem Handeln zu ermutigen. Das kann nicht stellvertretend geschehen und wird Zeit brauchen.

werner rätz,

koordinierungskreis attac