Ein Jahr nach dem 11. September

Apokalypse und Normalität

Die meisten Prognosen über die Folgen des 11. September fielen düster aus. Was ist wirklich eingetroffen?

Kleinere Steine

Am Abend des 7. Oktober 2001 fielen die ersten Bomben auf Afghanistan. Gut einen Monat später stürzte die Herrschaft der Taliban in Kabul, im Dezember wurde die Übergangsregierung unter Hamid Karzai gebildet. Wie sieht ein Jahr nach den Attentaten die Bilanz des Krieges der USA und ihrer Verbündeten im Mittleren Osten aus? Brach die Apokalypse über die AfghanInnen herein, oder führte man sie ins Reich der Freiheit?

Das Urteil über die mittelöstliche Wirklichkeit muss notgedrungen differenziert ausfallen. Die Situation ist von Landesteil zu Landesteil unterschiedlich. Für die Einwohner von Kabul, vor allem die Frauen, hat sicherlich der Druck abgenommen. Gleichwohl sind die »guten« Islamisten der Nordallianz, die mit der Hilfe der USA das Regime der Taliban ablösten, nicht viel besser als ihre Vorgänger.

Bereits Anfang des Jahres verkündete der neue Justizminister in Kabul, auch unter der Nordallianz würden Frauen bei Ehebruch gesteinigt, »aber wir werden kleinere Steine nehmen als die Taliban«. Die Präsenz der internationalen Truppen und die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit hindern die neuen Machthaber allerdings derzeit an solchen Praktiken.

Hingegen dürfte sich die Situation in anderen Städten und vor allem in ländlichen Regionen kaum gebessert haben. In manchen Gegenden ist sie sogar schlimmer geworden, denn die Warlords bekämpfen sich auch untereinander. Diese Mujaheddin, die das Land zwischen 1992 und 1996 zerstörten, sind die gleichen, die heute in der Regierung sitzen.

Der Krieg hatte keine humanitären Motive. Er sollte nicht die Rechte der afghanischen Frauen erkämpfen, und er richtete sich auch nicht gegen den radikalen Islamismus, sonst hätte man in Saudi-Arabien eingreifen müssen. Das ist aber kein Grund, den Inquisitionsmilizen der Taliban auch nur eine Träne nachzuweinen. bernhard schmid

Kampf den Antisemiten

Die Antisemiten aller Länder haben die Botschaft der Attentäter in den USA verstanden. In vielen Staaten stieg die Zahl der die antisemitischen Übergriffe im vergangenen Jahr. Der Staat Israel ist bedroht wie seit seiner Gründung nicht mehr. Die Attentäter von New York und Washington und die Palästinenser, die Israelis töten, weil sie Juden sind, folgen derselben Ideologie. Die Selbstmordattentäter werden von ihren Anhängern als Märtyrer gefeiert. Auch der Mann und die Frau, die in der vergangenen Woche in Heidelberg festgenommen wurden, weil sie für den 11. September Anschläge auf US-Einrichtungen geplant haben sollen, gelten als Anhänger Ussama bin Ladens und als Judenhasser.

In der deutschen Bevölkerung, so eine in der vergangenen Woche veröffentlichte Untersuchung, hat es einen »dramatischen Anstieg des Antisemitismus« und »eine deutliche Zunahme der Verharmlosung des Nationalsozialismus« gegeben.

Elmar Brähler, Professor an der Universität Leipzig, erklärte bei der Vorstellung der repräsentativen Studie über rechtsextreme Einstellungen in Deutschland die Besorgnis erregende Entwicklung mit den Ereignissen des 11. September. Die Anschläge hätten »das Angstgefüge in der Bevölkerung« verändert. Die Sehnsucht nach Sicherheit und Führung habe offenbar zugenommen.

Dieser Wunsch hat dazu geführt, dass 31 Prozent der befragten Westdeutschen die Aussage bejahen, »der Einfluss der Juden ist zu groß«. Vor vier Jahren waren es noch 14 Prozent. Jeder fünfte der Befragten war der Ansicht, dass Juden etwas Besonders und Eigentümliches an sich hätten und nicht so recht »zu uns« passten. Und 23 Prozent meinten, dass Juden mehr als andere Menschen mit üblen Tricks arbeiten, um das zu erreichen, was sie wollen. Die Umfrage wurde im April durchgeführt, also noch bevor Jürgen Möllemann ungestraft seinen Antisemitismus als eine Meinung unter anderen der Öffentlichkeit präsentieren konnte.

Die Untersuchung zeigt, dass Juden in Deutschland wieder verstärkt als »Fremdkörper« halluziniert werden, mit denen man nichts zu tun haben will und die man loswerden möchte. Dieses Bestreben kann wieder zu jener tödlichen Konsequenz führen, die vor 60 Jahren in die Shoah mündete. Es beschränkt sich nicht auf Deutschland. Deshalb müssen Antisemiten bekämpft werden, in Deutschland, in den autonomen Palästinensergebieten, in Afghanistan und auch im Irak. kerstin eschrich

The Making of Muslims

In der prognostizierten Drastik haben sich die Dinge nach dem 11. September nicht entwickelt. Weder in Afghanistan noch in den USA noch in Deutschland sind die Angstszenarien Realität geworden. Am ehesten noch hat sich ein Jahr später die grobmaschige Prognose bewahrheitet, die militärische Antwort der USA auf den Terroranschlag stelle erst den Beginn groß angelegter Aufräumarbeiten im arabischen Raum dar, wobei man in der politischen Feinbewertung eines möglichen neuen Golfkriegs nur zentimeterweise vorangekommen ist.

Nicht eingetroffen ist, was viele als Konsequenz der medialen Hysterie sowie der verschärften Sicherheitsgesetze befürchteten. Zwar hat es in den westlichen Einwanderungsländern vereinzelt Übergriffe auf Muslime gegeben, nicht aber in dem von vielen befürchteten Ausmaß, auch nicht in Deutschland, wo der pragmatische Staatsrassismus eines Otto Schily einer alarmierten deutschen Bevölkerung signalisierte, dass man die Lage völlig unter Kontrolle habe.

Und doch gibt es auch eine signifikante Neuerung seit dem 11. September. Aus den ehemals »Gastarbeiter« genannten, später »Ausländer« geschimpften Einwanderern, die in jüngerer Zeit auch schon mal außerhalb eines explizit antirassistischen Milieus »Migranten« hießen, wurden plötzlich »Muslime«. Dieses Wort hat ganz sympathische Implikationen, wenn man sie nicht fundamentalistisch interpretiert. anne kreby

And the Winner is ...

Sein Name wird von der US-Regierung nur noch ungern erwähnt. Denn dass Ussama bin Laden verschwunden bleibt, ist das offensichtlichste Symbol für die dürftigen Ergebnisse des »Krieges gegen den Terror«. Entgegen manchen Erwartungen hat der Bau neuer Pipelines nicht begonnen. Die Staaten Mittelasiens und des Kaukasus lavieren wie zuvor zwischen Moskau und Washington. Und mochte es nach dem 11. September 2001 auch für kurze Zeit so aussehen, als hätten die USA die Führung der Welt übernommen, so entpuppte sich die »Allianz gegen den Terror« schnell als Phantombündnis, dessen Mitglieder konsequent ihre eigenen Interessen verfolgen.

Ob auf dem Weltgipfel in Johannesburg oder in der Irak-Debatte, wohl niemals zuvor waren die USA diplomatisch so isoliert. Und in Afghanistan nimmt die Zahl der Anschläge und der Angriffe auf US-Truppen zu. Während die US-Regierung wie auch ihre Gegner den Eindruck erwecken wollen, eine unbesiegbare Supermacht werde ihre Feinde zermalmen, hat sich der Trend zu einer »multipolaren Welt« beschleunigt.

Profitiert von diesem Krieg haben vor allem die Mitläufer: afghanische Warlords, pakistanische Generäle und deutsche Politiker. Die islamistischen Warlords der ehemaligen Nordallianz sind wieder an der Macht. Das pakistanische Militärregime konnte seine diplomatische Isolation überwinden, wirtschaftliche Vorteile aushandeln und seine Herrschaft institutionell festigen. Der wichtigste Kriegsgewinnler aber ist Deutschland.

Die Stationierung von Soldaten unter anderem in Usbekistan, Afghanistan, Djibouti und Kuwait war der große Sprung nach vorn für die militärische Interventionspolitik. So kann Bundeskanzler Gerhard Schröder stolz verkünden, Deutschland habe nach den USA bereits die meisten Truppen im Auslandseinsatz. Wo es sinnvoll ist, wie in Afghanistan, operiert man im Schatten der US-Militärmacht. Wo deutsche Interessen es gebieten, wie im Fall des Irak, gibt man sich als Kriegsgegner. Der Ausbau der eigenen Militärmacht, die Pose der zivilen Alternative zu den »Bush-Kriegern« und die Demonstration nationalen Selbstbewusstseins gehören zusammen auf diesem »deutschen Weg«. jörn schulz