Fünf Jahre »Jungle World«

»Seriell? Aktuell!«

Über fünf Jahre »Jungle World« diskutieren die AutorInnen.

Martin Krauß: Am Anfang lag der Vergleich mit den Obdachlosenzeitungen wie der Motz oder dem Straßenfeger nahe: Entstanden aus der Not und mit einer cleveren Idee, und mit ungewöhnlichem Vertriebsweg. Die meisten Leute kaufen die Motz aus Mitleid, nicht aus Interesse. Und ein ähnliches Motiv gab es am Anfang ja bei der Jungle World auch, da nennt man das bloß Solidarität statt Mitleid. Dann beginnen auch schon die Unterschiede. Wie die Motz hat sich zwar auch die Jungle World professionalisiert, aber die Motz interessiert mich immer weniger. Die Jungle World hingegen ist mir eine liebe Wochenzeitung geworden, die vieles leistet, was ich von einer Wochenzeitung erwarte. Etwa indem sie sich bestimmten Debatten stellt, zuletzt der zum 11. September.

Thomas Uwer: Ich habe vor diesem Gespräch herumgefragt und es war auffällig, dass die Jungle World von vielen als eine Art Gesinnungsblatt wahrgenommen wird. Die Kritik wurde auf den jeweiligen Kurs bezogen, den die Zeitung vermeintlich fährt. Ich hatte immer den Eindruck, die Jungle World vertritt gar keinen Kurs und fand das in Ordnung.

Holm Friebe: Die Jungle World hatte nach dem 11. September eben keine konsistente Linie. Hätte sie sofort eine aus dem Ärmel gezaubert, dann wäre das für mich ein Anzeichen gewesen, dass es sich um ein Sektiererblättchen handelt.

Uwer: Es gab natürlich Stellungnahmen, die sich widersprochen haben. Aber das war zum Glück kein buntes Allerlei. Und es gab sehr gute Analysen, die man in dieser Art in keinem anderen Blatt finden konnte. Daran haben sich viele auf die eine oder andere Weise abgearbeitet. Das birgt natürlich die Gefahr, es mit der Debatte innerhalb der deutschen Linken zu übertreiben. Dann werden die Beiträge auf der Disko-Seite dürftig, man hat das Gefühl, da hat sich etwas totgelaufen.

Katja Diefenbach: Welche Debatte meinst du?

Uwer: Zum Beispiel die zu Israel, bei der es gar nicht um Israel ging, sondern um die Solidarität deutscher Linker mit Israel, letztlich also darum, ein Subjekt auszumachen, mit dem man guten Gewissens solidarisch sein kann. Das ist eine deutsche Diskussion, die immer weniger mit der Auseinandersetzung vor Ort zu tun hat.

Diefenbach: Bei der Jungle World gibt es ein doppeltes Problem: Ideologisierung des Schreibens und permanente Überarbeitung. Es handelt sich um eine ideologisierte Haltung ohne verbindliche Ideologie. Einer Reihe von AutorInnen scheint es Genuss zu bereiten, weltanschauliche Gewissheiten zu verbreiten und Woche um Woche das aufzuschreiben, was sie schon vorher wussten. Angesichts des Zeitdrucks stellt das sogar eine effiziente Schreibweise dar, man hält die Variable des Unbekannten, dessen, was zu recherchieren oder zu analysieren wäre, klein.

Bei einigen AutorInnen hat eine parastalinistische Haltung überlebt: Freund-Feind-Denken und eine große Liebe zu einfachen Antagonismen. Diese ab und an auftauchende Tendenz, das Politische durch Rechthaberei zu ersetzen, diese Vorstellung, radikales Publizieren hieße, sich ausschließende Standpunkte aufeinander clashen zu lassen, kann man immer mal wieder auf der Disko-Seite nachlesen.

In der Jungle World existiert eine Reihe von Schwierigkeiten, die durch Arbeitsüberlastung verstärkt werden. Dazu gehört auch der fehlende Zugang zu Themen, die nicht dem Haus-und-Hof-Denken der Redaktion entsprechen, wie feministische Wissenschaftstheorie, migrantischer Antirassismus, queer politics etc. Dass es in den letzten fünf Jahren nicht oft gelungen ist, feministische oder migrantische Argumentationen ins Blatt zu bekommen, zeigt, wie fest gefügt das Verhältnis von Ideologisierung und Zeitdruck bei AutorInnen und RedakteurInnen ist.

Ivo Bozic: Ab und an macht eine Zuspitzung auf der Disko-Seite doch einfach deutlich, wo die Unterschiede liegen. Das ist noch keine ideologisierte Haltung. Ich wüsste nicht, von welcher Bewegung oder theoretischen Richtung die Jungle World das Zentralorgan wäre. Ich sehe sie auch nicht als Gesinnungsblatt. Es gibt eine fruchtbare Meinungsvielfalt, und es gibt Entwicklungen bei Positionen. Anfangs hat man unserem Pluralismus Beliebigkeit vorgeworfen, teils zu Recht. Heute stehen Meinungen nur noch selten unvermittelt nebeneinander, sondern sie stehen meistens miteinander in Beziehung. Es entstehen oft hochwertige Debatten. Die Jungle World muss aber aufpassen, dass sie nicht wie konkret zu einem Autorenblatt wird. Sie muss eine aktuelle Wochenzeitung bleiben. Also besser mehr Journalismus als personalisierter Meinungskampf.

Uwer: Und mehr internationalistischer Journalismus, der Themen bearbeitet, auch wenn sie gerade weder für die bürgerliche Presse noch für das deutsch-linke Gemüt interessant erscheinen.

Friebe: Sicher wollen manche die Diskussionen, manche kennen inzwischen auch die Namen von den Autoren. Aber das beantwortet nur die Frage, warum die Leute, die die Jungle World lesen, sie lesen, und nicht die Frage, warum so viele, die sie lesen könnten, sie nicht lesen. Und das ist eine Frage des Bezugsrahmens, auch des Bezugsrahmens des Humors, der meiner Meinung nach immer etwas klemmig klingt, weil er sich auf einen linken Background bezieht, seine Gegenstände daraus rekrutiert und auf Insiderwissen baut. Wenn man – nur mal versuchshalber – den New Yorker als Benchmark nimmt: Das ist vor allem ein intellektuelles Blatt und deshalb in den USA unfreiwillig auch oft ein linkes. Aber es ist eben auch ein literarisches Blatt. Und das Literarische vermisse ich bei der Jungle World. Da sind andere Blätter einfach besser.

Uwer: Mich interessiert, welche Debatte da stattfindet, welche Analyse geleistet wird, welche Schwerpunkte die Berichterstattung setzt. Also die Frage, wie man linken Journalismus machen kann, ohne mit seinem Linkssein lediglich ein Revier abzustecken: nicht Bekenntnisse ablegen, beziehungsweise die marginalisierte linke Presse daraufhin abgrasen, wer wieder mal daneben gedacht hat, aber auch nicht Tageszeitung spielen. Was mich oft stört, ist, dass am Mittwoch Sachen in der Zeitung stehen, über die man bis dahin schon aktueller informiert wurde. Dafür fehlen Themen, die der bürgerlichen Presse nicht mehr als eine Randnotiz wert sind.

Diefenbach: Die Jungle World schwankt zwischen linkem Konservatismus – Selbstvergewisserung, Ideologisierung ohne Ideologie – und einem an anderer Stelle plötzlich aufbrechenden kulturellen Populismus. Ab und an gibt es popjournalistische Artikel im negativen Sinne, wie sie in der SZ, in jetzt etc. seit zehn Jahren erscheinen, und dort eine Art feuilletonistischer Zugabe darstellen. Neben dem, was im vorderen Teil steht, beschäftigt man sich auch mal mit dem Abwegigen, Lustigen, Alltäglichen, Coolen – Pop als neobürgerliche Abspaltung eben.

Die Jungle World ist dann spannend, wenn sie ihre ideologischen und kulturalistischen Blockaden durchbricht und das komische Nebeneinander von linkem Konservatismus und kapitalisierten Formaten des Popkulturellen als das Andere des Ernsten beendet. Denn nichts ist ernster als das Mini-Glück von Pop, Drogen, Ausgehen. In diesem Sinne sollte es die Zeitung auch vermeiden, ihren Humor auf Extraseiten oder in Comics auszulagern.

Mich interessieren bestimmte Formen linker Analyse, in der diese Spaltungen überwunden werden, zum Teil passiert das in der Jungle World, in der die feministischen Debatten verfolgt werden, in der auf das Wort queer nicht unbedingt das Wort Akademismus folgt, in der das Alltägliche, Kleine, Essayistische nicht unbedingt in den Kulturteil gehört, in der Internationalismus einen hohen Stellenwert hat, in der andere Schreibweisen über Rassismus auftauchen und weggegangen wird vom Antifa-Selbstidentifikationsprojekt einer deutsch, subkulturell, autonom orientierten Linken. Bei der Empire-Diskussion zum Beispiel, die in vielen Staaten und in vielen Szenen geführt wird und bei der es explizit um ein neues Niveau internationaler Kapitalisierung geht, wäre es spannend, Beiträge aus Lateinamerika oder der Türkei zu bekommen.

Krauß: Mir leuchtet nicht ganz ein, warum das alles in einer Wochenzeitung stattfinden sollte, da bietet das Internet zahlreiche Möglichkeiten einer breiteren, ausführlicheren und aktuelleren Partizipation. Linke Analyse und die Themen, die du angesprochen hast, das gehört in die Jungle World und findet sich dort auch, aber das alles ist nur ein Segment der Zeitung. Ich vermute, dass eine Wochenzeitung unlesbar wäre, in der jeder Artikel einen Beitrag zu einer linken Debatte oder zum Aufbrechen ideologischer und kulturalistischer Blockaden leisten soll.

Friebe: Für etwa die Hälfte der Zeitung gelten normale journalistische Qualitätsstandards. Aber in der anderen Hälfte wäre mehr Platz für etwas anderes. Die Jungle World hat den Vorteil, dass sie an vielem, was abseitig ist, näher dran ist, an Szenen, die abseits von kapitalistischen Verwertungszusammenhängen funktionieren, an einer Politszene, aber auch an Leuten, die schreiben, an der Bohème, wenn man so will. Und da würde ich eine Lanze brechen für etwas anarchischere Experimente in Sachen Form und Themensetzung. Also eher Gonzojournalismus als Hochglanzjournalismus.

Diefenbach: Für mich heißt linke Analyse nicht Dossier, Disko, Feuilleton. Diese Aufteilung kritisiere ich. Es geht mir genau darum, Analyse in ein wöchentliches Format zu bringen, darum, dass es kickt, die Jungle World zu machen, weil es schnell, interventionistisch und seriell ist.

Bozic: Ein positives Beispiel ist der Sport, da werden oft ungewöhnliche Themen rausgesucht, mit einer gesellschaftlichen Analyse verbunden, und meistens sind sie auch noch aktuell und gut geschrieben. Da haben es die unmittelbar politischen Ressorts natürlich schwieriger.

Friebe: Extrem schwierig, Themen, die trocken sind und in allen anderen Zeitungen auch abgehandelt werden, so aufzuschreiben. Das ist einfach die hohe Schule des Journalismus und bei dem Zeilengeld findest du nicht viele, die das können.

Diefenbach: Hohe Schule des Journalismus? Lies doch mal die so genannten Edelfedern des bürgerlichen Journalismus. Total stumpf.

Friebe: Es gibt doch in der Jungle World Autoren, die es hinbekommen, auf den ganzen bürgerlichen Metaphernsalat verzichten, die auch noch die richtige Sicht auf die Dinge haben und die deshalb bestimmte Sachen nur in der Jungle World unterbringen können. Autoren, die hier so schreiben können, wie sie wollen, was ihnen und den Lesern Spaß macht. Einige Autoren haben dieses Kaliber. Aber es gibt halt auch sehr viele Graubrottexte.

Diefenbach: Schon das Wort Kaliber erzeugt Kopfschmerzen.

Krauß: Aber man liest diese Autoren gern. Vielleicht wäre das Blatt nur mit solchen Texten ganz schrecklich. Aber allgemein gilt doch: Wenn ich einen Text gern lese, dann gehört er da rein, und wenn ein Text bis zum Ende gelesen wird, dann ist das schon ein Erfolg.

Bozic: Viele mögen die Jungle World nicht, was nicht heißt, dass sie sie nicht lesen. Viele Leser nervt, dass das immer so destruktiv ist. Ja, wir kritisieren oft, ohne es besser zu wissen. Aber wenn wir es immer besser wissen würden, dann würde man uns Avantgardebewusstsein vorwerfen.

Krauß: Das macht mir die Zeitung sympathisch: Dass sie alles kritisiert, dass sie von niemandem geliebt wird.

Friebe: Ich hätte lieber eine Zeitung, die man hemmungslos lieben kann.

Uwer: Das ist mir zu inhaltsleer. Man sollte seinen politischen Anspruch bewahren und auch den Überblick, wo setzt man Schwerpunkte, wo stößt man eine Diskussion an und nimmt Einfluss. Es wäre im Moment zum Beispiel wichtig, die Flüchtlingspolitik in Europa mehr zu thematisieren.

Bozic: In den letzten Jahren hatte die Jungle World oft einen guten Riecher, was die Themensetzung angeht. Viele Themen, die jetzt diskutiert werden, haben wir schon früher diskutiert, Befreiungsnationalismus, Antisemitismus sowieso, Globalisierungskritik, Antiamerikanismus, rot-braune Querfrontpolitik. Da kenne ich keine andere Zeitung, die dazu auch nur annähernd und so kontinuierlich gute Analysen hatte.

Diefenbach: Aber wie wurde die Antisemitismusdebatte in der Jungle World geführt? Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Themenstellung der antideutschen Debatte – Antisemitismus, Antiamerikanismus, Kritik am Befreiungsnationalismus – dazu benutzt wurde, eine autoritäre Distinktionsfläche zu etablieren und sich selbst als letzten Rest der Linken zu behaupten, während alle anderen zum faschistischen Mob mutierten. Diese Kolonisierung der Debatte ging mir schon immer auf die Nerven, und die Jungle World hat dafür ein Forum bereitgestellt.

Bozic: Die Jungle World war dabei aber nicht nur auf Abgrenzung aus, sondern sie hat Leute mitgenommen.

Krauß: Ich glaube, das wird jetzt zu stark entlang der Vorstellung einer mehr oder weniger einheitlichen Position diskutiert, die die Zeitung mehr oder weniger einnehme und womit sie Leute mitnehme. Dabei ist die Leserschaft offensichtlich sehr heterogen zusammengesetzt und deshalb muss man sich gar nicht längs dieser Linien sortieren.

Friebe: Ich empfinde deshalb das Label linke Wochenzeitung als Problem. Das ist wie bei der Titanic, wo Satiremagazin draufsteht. Das schafft eine Erwartungshaltung, die den einzelnen Texten gar nicht zu gut bekommt. Nicht alles lässt sich auf dieses eine Adjektiv beziehen.

Krauß: Als Autor ist mir das relativ egal. Ich fühle mich nur dafür verantwortlich, was ich schreibe, und muss mich nicht dafür schämen, was sonst noch in der Zeitung steht. Als Leser ist mir die Jungle World in ihrer Gesamtkomposition sehr sympathisch, aber wenn man sich linke Wochenzeitung nennt, kommt man in eine merkwürdige Diskussion, in der jeder Artikel daraufhin begutachtet wird, ob er denn jetzt links ist oder nicht. Und nicht, ob er gut zu lesen ist, sauber recherchiert, ob er diskutable Thesen vertritt.

Diefenbach: Ich schreibe für die Jungle World, weil ich das Projekt linke Wochenzeitung interessant finde. Die Linke ist kein Kloster, in das man aus missionarischen Gründen eintritt. Soweit sie das aber doch ist, begegnet man genau jenen reaktionären Momenten, die sich im Linken verkapselt haben. Es ginge genau darum, andere Formen von Linkssein zu entwickeln, auch in dieser Zeitung.

Bozic: Man darf die Theorie nicht von den Handelnden trennen. Ohne Leute, die sie in irgendeiner Weise tragen, ist die Theorie, die Idee uninteressant. Unser Bezugspunkt ist deshalb immer auch die Linke oder es sind jene, die sich dafür halten. Aber der Bezug muss nicht immer positiv oder solidarisch sein.

Uwer: Man kann durchaus Linker sein, ohne mit der deutschen Linken und ihren identitären Projekten viel zu tun haben zu wollen. Mir sind Leute in Lateinamerika oder im Nahen Osten näher als der deutsche Linke um die Ecke. Diese Perspektive ist aber weggebrochen. Das liegt zum Teil wohl daran, dass die internationalistische Diskussion von NGO, Attac und anderen besetzt wurde. Mit denen will man nichts zu tun haben, das verstehe ich.

Diefenbach: Ich glaube, das ist falsch. Auch innerhalb der so genannten Antiglobalisierungsbewegung gibt es Gruppen, die die Bedeutung von bestimmten NGO als neue Vermittlungsstruktur für die Imperative kapitalistischer Strukturanpassung angreifen und die Regulierungsforderungen von Zusammenhängen wie Attac als zu kurz gegriffen kritisieren. Das wird in der Jungle World manchmal zu stark vereindeutigt, etwa vor der Demonstration in Genua, wo man in manchen Artikeln den Eindruck bekommen konnte, alle Globalisierungsgegner seien Regulierer und Regionalisten.

Krauß: Man sollte mehr Themen selbst setzen und nicht so viel den aktuellen Themen hinterherhetzen. Im Sportteil klappt das ganz gut, da wurde aus der Not eine Tugend gemacht. Hier kann man unmöglich aktuell sein, zum Beispiel zur Fußball-WM musste man einen ganz anderen Zugang wählen. Genauso muss das auf den vorderen Seiten gemacht werden. Das kann ein Flüchtlingsthema sein, aber auch etwas aus dem Feuilleton.

Friebe: Es gibt eine nervende Autorenpose, sich schlauer zu machen, als man ist, und so ganz von oben herab zu schreiben. Manchen Texten würde es gut tun, wenn die Autoren ihre Defizite zugeben.

Krauß: Aber das ist doch kein spezifisches Jungle-Problem, das macht den Unterschied zwischen sympathischen und unsympathischen Zeitgenossen aus.