Der neue nahe Osten

Vor den Militärschlägen auf Afghanistan verärgerte Israels Ministerpräsident Sharon die US-Regierung.

Es ist schon lange her, dass zwischen den Regierungen in Washington und Jerusalem solch harsche Töne zu hören waren. Am vergangenen Donnerstag hatte der israelische Ministerpräsident Ariel Sharon den USA vorgeworfen, gegenüber den arabischen Staaten eine Appeasement-Politik auf Kosten Israels zu betreiben. Er warnte die US-Amerikaner davor, »die schrecklichen Fehler von 1938 zu wiederholen, als Europa die Tschechoslowakei den Nazis geopfert hat. ... Wir werden das nicht zulassen. Israel ist nicht die Tschechoslowakei. Israel wird den Terrorismus bekämpfen.«

Ein schwerer Vorwurf gegen eine Macht, die gerade vorgibt, die freie Welt zu verteidigen. Die US-amerikanische Regierung reagierte entsprechend gereizt. George W. Bushs Sprecher Ari Fleischer sagte, dass die Aussagen Sharons »für den Präsidenten inakzeptabel« seien. Auch wenn die Unstimmigkeiten nach offiziellen Angaben bereits am Samstag wieder bereinigt waren, und der israelische Außenminister Shimon Peres am Sonntagabend nach den ersten Angriffen den USA seine volle Unterstützung zusicherte, zeigt sich mit dieser Episode ein grundsätzlicher Konflikt zwischen der israelischen und der US-Regierung.

Die Auseinandersetzung ist vor dem Hintergrund einer neuen US-amerikanischen Initiative im Nahen Osten zu sehen. Am Dienstag vergangener Woche war bekannt geworden, dass bei der für den 24. September anberaumten UN-Vollversammlung ein umfassender Plan zur Wiederbelebung des Friedensprozesses unterbreitet werden sollte. Bei dieser Gelegenheit war zudem erstmalig ein Treffen zwischen Präsident Bush und dem Vorsitzenden der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) Yassir Arafat geplant. Ebenfalls am Dienstag hatte Bush öffentlich die Legitimität des palästinensischen Wunsches nach einem eigenen Staat bekräftigt.

In jedem Fall wäre die Initiative weit über alles hinausgegangen, was die Bush-Administration bisher an Engagement im Nahost-Konflikt an den Tag gelegt hatte. Offensichtlich konnten sich innerhalb der Regierung die moderaten Kräfte um Außenminister Colin Powell gegen diejenigen durchsetzen, die wie der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz das Abkommen von Oslo als Fehler betrachten. Es gab bereits auch Überlegungen, einen neuen Sonderbotschafter in den Nahen Osten zu entsenden.

Die Anschläge vom 11. September verhinderten nicht nur eine neue UN-Vollversammlung, sondern auch, dass die USA tatsächlich in diesem Sinne aktiv wurden. In dieser Hinsicht haben die vermutlich islamistischen Täter noch einen Erfolg verbuchen können. Gleichzeitig ergibt sich aus den Anschlägen jedoch eine weltpolitische Situation, die wenigstens beim Nahost-Konflikt leise Hoffnungen aufkeimen lassen könnte.

Diese Situation erinnert deutlich an diejenige vor zehn Jahren, an den Zweiten Golfkrieg. Damals war es den US-Amerikanern gelungen, mit fast allen arabischen Staaten, einschließlich Syriens und Saudi-Arabiens, eine Allianz gegen den Irak zu bilden. Die Voraussetzung dafür war, dass Israel sich aus dem Bündnis heraushalten und auch keine militärischen Aktionen gegen den Irak unternehmen sollte. Damit konnte nicht nur ein gegen Israel gerichtetes Bündnis des Irak mit anderen arabischen Staaten verhindert werden, ein Bündnis, das im Gegensatz zu den irakischen Scud-Raketen tatsächlich Israels Existenz hätte bedrohen können. Es bildete auch die Grundlage für den Vertrag von Oslo und für neun verhältnismäßig ruhige Jahre in der Region.

Es besteht die Möglichkeit, dass eine ähnliche Konstellation heute wenigstens in diesem einen Punkt positive Konsequenzen zeitigen könnte. Allerdings sind auch die Unterschiede gegenüber der Situation vor zehn Jahren nicht zu übersehen. Die USA konnten damals in einem von der ehemaligen Sowjetunion hinterlassenen Vakuum agieren, während sich mittlerweile komplexe regionale Machtstrukturen entwickelt haben, die die Vision eines »Neuen Nahen Ostens«, wie sie George Bush sen. seinerzeit präsentierte, zu einer wesentlich schwierigeren Angelegenheit machen.

Außerdem war der Weg nach Oslo von einer katastrophalen Fehleinschätzung Arafats erleichtert worden, der sich mit dem Irak verbündet hatte. Danach blieb für ihn und die PLO nur noch die Chance, sich auf den Friedensprozess mit Israel einzulassen. Diesen Fehler hat Arafat nicht noch einmal gemacht.

Der dritte und vermutlich entscheidende Unterschied zwischen der heutigen Konstellation und derjenigen des Zweiten Golfkrieges ist aber, dass damals der Islamismus noch recht unbedeutend war. Das ist heute anders. Nicht nur haben die islamistischen Palästinenserorganisationen Hamas und Djihad enorm an Einfluss gewonnen. Auch in den einstmals säkularen Gruppen der Fatah, der PFLP oder der DFLP und in der palästinensischen Bevölkerung insgesamt sind islamistische Tendenzen stärker geworden.

Erschwerend kommt hinzu, dass von Seiten der israelischen Regierung, jedenfalls soweit es Sharon und seine rechten Koalitionspartner betrifft, keine Absicht besteht, diese Chance zu nutzen. Sharon sah in den Anschlägen vielmehr die Gelegenheit, Arafat als Terroristen abzustempeln und ihn international zu isolieren. Dass er damit gescheitert ist, lag nicht nur an Arafats geschickter medialer Inszenierung, sondern auch daran, dass eine solche Politik nicht in das derzeitige US-Konzept passt.

Mit seinen Äußerungen vom Donnerstag hat Sharon seine politische Position in Israel nicht verbessert. Die Kritik an der Gleichsetzung von Bush mit Chamberlain und von Arafat mit Hitler kam nicht nur von den Vereinigten Staaten, sondern auch von der israelischen Opposition und den liberalen Medien. Yediot Ahronot bezeichnete die Aussagen Sharons als »historisch falsch, politisch schädlich und faktisch inkorrekt«. Nach jüngsten Umfragen des Tami Steinmetz Centers in Tel Aviv stimmt auch eine deutliche Mehrheit der Israelis in diesem Punkt mit der Politik Sharons nicht überein.

Uzi Benziman, ein Kommentator der liberalen Zeitung Ha'aretz, zog am vergangenen Sonntag eine vernichtende Bilanz für den Ministerpräsidenten: »Solange man zurückdenken kann, hat sich die Situation dieses Landes noch niemals so drastisch und so dramatisch in jeder möglichen Hinsicht verschlechtert.«

Doch auch Arafat scheint die Gelegenheit nur zur Aufbesserung seines Images und nicht für die Lösung des Konfliktes benutzen zu wollen. Zwar lässt er immer wieder verlauten, dass er sich an den mit Peres vereinbarten Waffenstillstand gebunden fühlt, die versprochenen Bemühungen der Autonomiebehörde, radikale Palästinenser zu verhaften, lassen aber zunächst auf sich warten.

Zwar hat die Autonomiebehörde am Wochenende erstmals in einer Kabinettserklärung den radikalen Gruppen mit Bestrafung gedroht, sollten sie sich nicht an die von Arafat ausgerufene Waffenruhe halten. Bis Redaktionsschluss waren jedoch lediglich vier militante Palästinenser von der PA festgenommen worden.

Sicher ist Arafat nicht in der Lage, alle bewaffneten Kräfte in den besetzten Gebieten zu kontrollieren. Gerade in der letzten Woche wurden bei einem Anschlag in Afula drei Israelis und der Attentäter getötet. Trotzdem wäre eine systematische Ausschaltung der radikalen und islamistischen Gruppen eine Voraussetzung dafür, den Friedensprozess auf eine solide Grundlage zu stellen. Sie wäre nicht zuletzt auch eine Voraussetzung für die Stabilität eines zu schaffenden palästinensischen Staates.

Während die Akteure vor Ort die geringen Chancen, die in der derzeitigen Situation für den Friedensprozess liegen, zu verpassen scheinen, will man sie sich hierzulande nicht entgehen lassen. Die FAZ kommentierte das am vergangenen Samstag so: »Die Politik der Amerikaner und der Europäer in der arabisch-islamischen Welt bestimmt von nun an den Konflikt zwischen Sharon und Arafat.« Der Einfluss der USA auf die Entwicklung des Konflikts ist zwar nichts Neues und hat in der Vergangenheit insgesamt stabilisierend gewirkt. Aus der Sicht der FAZ aber ist entscheidend, dass inzwischen auch nichts mehr ohne die Europäer, das heißt vor allem die Deutschen, geht. Eine Chance für den Frieden in dieser Region ist das nicht.