Stuart Halls Schriften

Jogging der Bastarde

Wie Stuart Hall ratternden Signifikanten innerhalb der Cultural Studies zu mehr Bodenhaftung verhilft.

Ausgewählte Schriften« verweisen in der Regel auf eine umfangreiche Publikationstätigkeit. Bei Stuart Hall ist dies zweifellos der Fall. Dabei hat der 1932 auf Jamaika geborene Mitbegründer der Cultural Studies nie ein bahnbrechendes Werk geschrieben. Im Gegensatz zu anderen Gründungsvätern der Cultural Studies wie Raymond Williams, Richard Hoggart oder Edward P. Thompson, gehen seine theoretischen Impulse von einer schier endlosen Zahl von Aufsätzen und Zeitungsartikeln sowie zahlreichen Sammelbände aus. Als eine Art »Theoretiker der Interventionen« hat der seit 1951 in Großbritannien lebende Hall mehr als alle anderen VertreterInnen der Cultural Studies die Theoriebildung des 1964 in Birmingham gegründeten Center for Contemporary Cultural Studies (heute: Department of Cultural Studies) geprägt.

Nach der Neuauflage der ersten beiden Bände ist mit gut sechsmonatiger Verspätung nun der dritte Band der »Ausgewählten Schriften« im Berliner Argument-Verlag erschienen. Von dem seit wenigen Jahren erheblich gestiegenen Interesse an den Cultural Studies im deutschsprachigen Raum kann der Verlag dabei nur profitieren. Allerdings rührt die Verlagspolitik von einer bis in die siebziger Jahre zurückreichenden Zusammenarbeit zwischen Hall und diversen im Argument-Kreis initiierten Forschungsprojekten her.

Obwohl im ersten Band mit dem Titel »Ideologie, Kultur, Rassismus« von Cultural Studies nur am Rande die Rede ist, umfassen die dort zusammengestellten Aufsätze allesamt Themenbereiche, die zum Repertoire der Birmingham School gehören. Angesichts der mittlerweile kaum zu überblickenden Forschungsgebiete - von der Analyse des Einkaufsbummels bis zu Post-Colonial Studies - und der Randexistenz von klassisch marxistischen Kategorien in den vorherrschenden Paradigmen der Cultural Studies, erscheint Halls antiökonomistisch geführte Auseinandersetzung mit der Marxschen Klassentheorie eher hilflos. Kulturlinken heute könnte sie aber vielleicht nahe bringen, dass ein Cocktail auch dann schmecken kann, wenn man gelegentlich noch den Klassenbegriff im Munde führt.

Der zweite Band (»Rassismus und kulturelle Identität«) rückt mitten ins Zentrum der zeitgenössischen Cultural Studies vor. In diesen Aufsätzen geht es um Fragen der Identität und Ethnizität, um die theoretische Verabschiedung des klassisch soziologischen Subjekts und die Analyse von Rassismus als einem historisch-variablen Artikulationsverhältnis. Hall geht es, so die HerausgeberInnen, darum, eine »Politische Theorie der Bastarde« zu entwickeln; eine in diesem Zusammenhang wesentliche Überlegung geht davon aus, dass eine Politik ohne einen Ort, von dem aus man spricht, nicht existieren kann. Dieser Sprechort ist aber nie endgültig fixiert, sondern er wird nach einer konjunkturbedingten Positionslogik eingenommen. Daraus ergibt sich die Folgerung, dass politisches Handeln nie auf gleichbleibende, sichere Identitäten gründen kann. Identitäts-Politiken - oder vielleicht besser: Identifikations-Politiken - wird es aber nach Hall weiterhin geben müssen.

Entscheidend ist für ihn, diesen Identifikationsprozess als einen offenen zu begreifen, der Positionen hervorbringt, die nicht zeitlos gültig sind, aber doch von Dauer sein können. Hall reagiert damit auf Konzepte innerhalb der Cultural Studies, die »ein endloses Gleiten des Signifikanten« zum Gegenstand akademischer Dekonstruktion machen und dabei das Politische aus den Augen verloren haben.

Dieser Ansatz wird auch in den Aufsätzen des jetzt erschienenen dritten Bandes weiterverfolgt: In dem Aufsatz »Was ist 'schwarz' an der populären schwarzen Kultur?« wirft Hall die Frage auf, wie denn antirassistische Politik aussehen solle, »ohne einen Hauch von Essenzialismus, (Ö), ohne einen strategischen Essenzialismus als notwendiges Moment«. Wiederum erinnert Hall daran, dass Elemente der Ethnizität wie Sprachgemeinschaft oder Herkunft weder natürlich oder wesenhaft sind, noch beliebig im Diskursiven herumflottieren. Es ist die Herausarbeitung dieses Spannungsverhältnisses, einerseits einen Sprechort einzunehmen und ihn gleichzeitig »durchzustreichen«, das für Halls theoretische Arbeit grundlegend ist.

Wichtig innerhalb des dritten Bandes ist auch das von Lawrence Grossberg zusammengestellte Interview »Postmoderne und Artikulation«, eine Art Theoriejogging durch die Diskurse der Postmoderne. Halls Rezeption von Foucault, Mouffe oder Laclau zeichnet sich besonders durch das Vermögen aus, produktive Elemente aus dem jeweiligen Theoriedesign herauszulösen, ohne dabei in blinde Affirmation oder kategorische Pauschalkritik zu verfallen. Halls Kritik zielt dabei auf ein generelles Defizit postmoderner Ansätze ab: die Vernachlässigung der Dimension des Politischen bzw. der »Beziehung zur materiellen Praxis und zu den historischen Bedingungen«. Dennoch sieht er in der »Entdeckung der Diskursivität und Textualität« einen großen theoretischen Fortschritt, wie es in dem Aufsatz »Das theoretische Vermächtnis der Cultural Studies« heißt.

Die Verklammerung von diskurstheoretischen Ansätzen mit solchen, die z.B. an dem Ideologie-Begriff festhalten, sieht bei Hall dann etwa so aus: Eine Gesellschaftsformation ist weder ausschließlich durch ökonomische Kategorien vollständig erfassbar noch besteht sie in einem Setting beliebiger Diskurse. Halls Herangehensweise vermeidet dadurch analytische Vereinfachungen. Zum einen weist er dem gesellschaftlichen Überbau in der Analyse nicht mehr einen »second-hand-status« (Terry Eagleton) gegenüber der ökonomischen Basis zu. Zum anderen kann er, trotz der anzuerkennenden Heterogenität gesellschaftlicher Diskurse, diese in einen Zusammenhang stellen. Der Schlüsselbegriff dazu ist der der Artikulation, eine »sinnvolle«, zumeist dauerhafte, aber nie endgültige Anordnung.

Zwei weitere Aufsätze und die beiden jeweils am Anfang und Ende des Bandes platzierten Interviews von Kuan-Hsing Chen, allesamt lesenswert und im Hinblick auf Halls Biografie und die theoretische Entwicklung der Cultural Studies informativ, runden die Zusammenstellung dieses Bandes ab. Allerding fehlen zwei für die Cultural Studies bedeutsame Aufsätze: Halls Analyse des Rezeptionsprozesses von Medien in »Kodieren/ Dekodieren« und seine Auseinandersetzung mit den für die Gründungszeit der Cultural Studies dominanten Ansätzen des Kulturalismus und des Strukturalismus in »Cultural Studies. Zwei Paradigmen«.

Stuart Hall: Ideologie, Kultur, Rassismus. Argument, Hamburg, Berlin 1989, 239 S., DM 34,80 (Neuauflage, 2000)

Ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Argument, Hamburg 1994, 240 S., DM 34,80 (Neuauflage, 2000)

Ders.: Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Argument, Hamburg 2000, 158 S., DM 29,80