Die Angst des Schützen vorm Elfmeter

Auge in Auge

Jedes gute Fußball-Turnier lebt vom Elfmeterschießen. Hier machen die Versager Geschichte.

Alles läuft bestens bei dieser Fußball-EM: Die Spiele sind schön anzusehen, so manche Begegnung ist spannend bis zur letzten Minute und die Deutschen sind draußen. Dennoch fehlt bislang etwas. Etwas, das die genialen Spielzüge oder, je nachdem, das Strafraumgetümmel unterbricht, die Frage von Erfolg oder Scheitern auf den Moment reduziert.

Selbst wer Fußball für stinklangweilig hält, während des besten Spiels mit Fragen wie: »Warum laufen 22 erwachsene Männer einem einzigen Ball hinterher?« nervt, wer zuvor mit Computerspielen, Geschirrspülen oder Getränkeordern beschäftigt war, horcht auf: Elfmeter!

Es wird still. Alles hängt nun von den zwei Kontrahenten ab. Breitbeinig, angespannt und - zumindest für einen Moment - Auge in Auge stehen sich Schütze und Torwart gegenüber. Konzentration. Anlauf. Schuss.

Wenn einer bei diesem Duell Angst hat, ist es - entgegen einer landläufigen Meinung - nicht der Torwart. Denn er kann nichts falsch machen. Zwar kann er versuchen, über die Fußhaltung oder den Anlauf die Richtung des Balles zu ahnen, aber letztlich ist es Glückssache, in welche Ecke er springt. Niemand nimmt es ihm übel, wenn der Elfer im Netz landet. Hält der Torwart aber, wird er zum Helden.

»Das ist ja wie ein Elfmeter« lautet eine Redewendung, die eine Erwartunghaltung gegenüber dem Schützen ausdrückt: Er muss treffen, will er nicht als Depp dastehen. Verschießt er in einer entscheidenden Situation oder beim letzten Versuch, wird ihm allein die Schuld an der Niederlage gegeben.

Die Angst davor ist der häufigste Grund, wenn Elfmeter nicht verwandelt werden. Der schwerste Moment ist der umittelbar vor dem Antritt: Die Furcht davor, schießen zu müssen, übersteigt die Angst vor einem Fehlschuss. Der Blick wendet sich vom Tormann ab und fixiert den ruhenden Ball, der zum Gegner wird. Man will es hinter sich bringen, der Schuss ist ein Befreiungsakt - es sei denn, der Ball geht daneben.

Doch genau so werden die ganz großen Geschichten geschrieben: Denn die Heldentaten eines Tormanns geraten mit der Zeit in Vergessenheit, in Erinnerung aber bleibt das Versagen der Schützen. Uli Hoeneß wird noch immer nachgetragen, dass er im EM-Finale 1976 gegen die CSSR den entscheidenden Elfmeter in den nächtlichen Belgrader Himmel katapultierte. Tragisch auch Roberto Baggios Rolle bei der WM 1994: Der damalige Superstar der Italiener führte das Team ins Finale, um beim Stand von 4:5 im Elfmeterschießen hoch über das Tor von Claudio Taffarel zu schießen. Brasilien wurde Weltmeister.

Unangefochtene Champions im Verschießen von Elfmetern sind die Engländer. Im WM-Halbfinale 1990 gegen Deutschland wusste Stuart Pearce nichts Besseres, als auf den deutschen Keeper Bodo Illgner draufzuhalten, dafür verfehlte Chris Waddle Illgner ebenso sicher wie dessen Tor. Bei der EM 1996 scheiterte Gareth Southgate. 1998 schließlich, im WM-Achtelfinale, hielt der argentinische Tormann Carlos Roa den Schuss von David Batty.

Konsequent am gegnerischen Tor vorbei und auf Platz eins des innerenglischen Rankings schoss sich letzte Saison Arsenal London: Gleich dreimal unterlag das Team bei Endspielen im Elfmeterschießen: im Uefa-Cup gegen Galatasaray Istanbul, im englischen FA-Cup gegen Leicester City und im Ligapokal gegen FC Middlesbrough. Um diese chronische Schwäche zu beheben, studierte Nationalcoach Kevin Keegan bei der EM-Vorbereitung immer wieder Elfmeter ein. Dumm nur, dass Elfmeterschießen erst ab dem Viertelfinale möglich ist.

Die Einzelwertung führt der Argentinier Martin Palermo an. Beim Südamerika-Cup 1999 brachte er es im Vorrundenspiel gegen Kolumbien fertig, innerhalb einer einzigen Partie gleich drei Elfer zu verschießen. Kolumbien gewann passend mit 3:0, Argentiniens Coach Marcelo Bielsa rastete völlig aus und wurde des Stadions verwiesen. Auf die Idee, es mal mit einem anderen Spieler zu probieren, kam Bielsa nicht. Dafür kam wenig später Lazio Rom auf die Idee, 24 Millionen Mark an Boca Juniors Buenos Aires zu überweisen, um sich die Dienste des Elfmetergottes Palermo zu sichern.

Auch ohne Elfmeterschießen hat diese EM bereits ihre ersten tragischen Elfmeter-Figuren produziert: Arif Erdem etwa, der in der Viertelfinalbegegnung Türkei-Portugal beim Stand von 0:1 einen Strafstoß versiebte. Zuvor hatte Teamkollege Alpay Özalan bereits Rot kassiert, Arifs Fehlschuss markierte die Entscheidung. »Zwei Amateure haben unser Rückflugticket gebucht«, fluchte die Tageszeitung Sabah. Gut, dass zumindest Arif für die nächste Saison bei Real San Sebastian angeheuert hat und in Spanien Zuflucht vor dem Zorn seiner Landsleute suchen kann.

Für Raul Gonzales hingegen dürfte es dort ungemütlich werden: Noch am Abend, als er im Spiel gegen Frankreich in der 90. Minute beim Stand von 1:2 den Elfmeter über das Tor jagte, begann der Spott über den bestverdienendsten Fußballer der Welt.

Nur bei wenigen bleibt nicht ihr Versagen, sondern ihr Können am Elfmeterpunkt im Gedächtnis. Anders als ihre Berufskollegen beobachten diese wenigen Spezialisten den Tormann bis zuletzt, warten dessen Reaktion ab, und schaffen es, in diesem Sekundenbruchteil den Fuß zu drehen und den Ball in die leere Ecke zu schieben. Der Tormann, der sich bereits auf dem Anflug in die falsche Ecke befindet, erkennt manchmal noch im Sprung, dass er sich zu früh entschieden hat. Entsetzen blitzt in seinem Gesicht auf. Zu spät. Der Ball kullert ins freie Eck.

Niemand hat diese Kunst so vollendet beherrscht wie Diego Armando Maradona. Allein sein Anlauf war eine Provokation: Keine Anspannung war seinem Gesicht anzumerken, er lief nicht, er schlenderte lässig auf den Elfmeterpunkt zu, und tippte den Ball erst an, als die Entscheidung des Tormanns gefallen war.

Im letzten Jahrzehnt gab es nur einen, der fast so cool wie Maradona Elfer verwandelte: Gheorghe Hagi. Aber so sicher er im Spielgeschehen traf, so selten kam er dazu, an einem Elfmeterschießen teilzunehmen. Denn Spiele, die im Elfmeterschießen enden, sind wichtige Spiele, und bei denen pflegt Hagi regelmäßig, sich Platzverweise einzuhandeln.

Wenn das Elfmeterfinish vorbei ist, wiederholt sich immer dieselbe Szene: Die einen tragen ihren Tormann, egal, ob der überhaupt einen einzigen Schuss gehalten hat oder nur Glück hatte, dass seine Kontrahenten den Ball sonstwohin gedroschen haben, auf Händen über den Platz. Die anderen, vor allem die unglücklichen Schützen, kauern einsam auf dem Rasen, manchmal fließen Tränen.

Und bei der Trainer-Pressekonferenz, bei Netzer und bei allen, die sich auch für Experten halten, heißt es, Elfmeterschießen sei reine »Glücks-« bzw. »Nervensache«, eine »Lotterie« mitunter, ungerecht und brutal. Nein! Elfmeterschießen ist die Krönung eines packenden 3:3 nach Verlängerung. Darauf warten wir. Auf dass die EM perfekt werde. Und dass Luis Figo den letzten, wirklich alles entscheidenen Elfmeter verwandle.