Sam Mussabini war in der Leichtathletik der erste Proficoach der Welt

Der Trainer der Sieger

Scipio Africanus »Sam« Mussabini war einer der ersten professionellen Leichtathletiktrainer der Welt. Er hat die Sportkultur des 20. Jahrhunderts tief beeinflusst.

Was den nach England ausgewanderten, aus einer syrischen Familie stammenden Neocles Gaspard Mussabini dazu bewog, seinen am 6. August 1867 geborenen Sohn Scipio Africanus zu taufen, ist nicht klar – aber es ist nachvollziehbar, dass der Sohnemann sich schon früh als »Sam« ausgab.

Selbst im für Exzentrik aller Art relativ offenen vik­torianischen England war es nicht sonderlich üblich, wie ein antiker römischer Feldherr zu heißen, aber es zeugt womöglich von einem starken Selbstbewusstsein von Mussabini senior und von dessen Wunsch, der Sohn möge ein wenig vom Kampfgeist des Publius Cornelius Scipio ­Africanus haben, der einst die Karthager vernichtend besiegte. Sams Mutter war die Französin Aline Farcat und sein Großonkel Antonio Mussabini war der katholische Erzbischof von İzmir.

Mehrere Goldmedaillengewinner bei den Olympischen Spielen in Stockholm im Jahr 1912 nahmen Mussabinis Dienste als Coach in Anspruch.

Dem Britischen Imperium, dem größten seiner Art in der Geschichte der Menschheit, kann man viel Negatives nachsagen. Allerdings führte gerade der Anspruch, eine Weltzivilisation zu sein, auch dazu, dass das Vereinigte Königreich im 19. Jahrhundert vergleichsweise liberal und multikulturell war. Und so konnte ein arabischer Einwanderer wie Neocles Mussabini zu einem wohlhabenden Journalisten aufsteigen, der seinen Sohn auf eine teure französische Privatschule schickte. Dort entdeckte Sam Mussabini seine Liebe zum Sport und sein Talent für Leichtathletik.

Der junge Mann trat im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts als professioneller Sprinter in Erscheinung, womit er sich ein Zubrot zu seinem Hauptberuf verdiente. Wie sein Vater wurde auch Sam Mussabini Journalist, aber sein Ressort war der Sport. Nebenbei verfasste er zwei Bücher über Billard, einen Sport, der ihn faszinierte und den er als Amateur recht erfolgreich betrieb.

Mission: Professionalisierung des Sporttrainings

Sam las jedes Buch über Sport und vor allem Leichtathletik, das er in die Hände bekam, und je mehr er über die Geschichte des Sports lernte, desto überzeugter war er, dass britische Athleten viel besser sein könnten, als sie waren, würden sie nur nach wissenschaftlichen Methoden trainiert. Mussabini sah es als seine Mission an, für eine Professionalisierung des Sporttrainings zu sorgen, und begann daher ab dem Jahr 1900, Athleten zu coachen.

»Coachen« ist hier das Stichwort, denn Mussabini selbst sagte von sich, er trainiere Sportler nicht, sondern coache sie. Ein damals gar nicht so kleiner Unterschied, da Trainer zu jener Zeit mit militärischem Drill vor allem an rein körperlichen Aspekten wie Muskelkraft arbeiteten. Ein Coach hingegen ging auch auf die jeweilige Persönlichkeit des Athleten ein und verfolgte das, was man heute einen ganzheitlichen Ansatz nennen würde.

Größere Bekanntheit erlangte Mussabini im Jahr 1908, als der von ihm gecoachte Südafrikaner Reggie Walker die Goldmedaille im 100-Meter-Lauf bei den Olympischen Spielen in London gewann. Die neuere Forschung stellt Mussabinis Rolle bei diesem sportlichen Erfolg in Frage, doch ein Mythos war geboren.

Widerstand des britischen Sport-Establishments

Öffentlichkeitswirksame Siege wie dieser führten dazu, dass sich immer mehr Leichtathleten von Mussabini coachen lassen wollten. Dabei stießen sie auf teils erbitterten Widerstand des britischen Sport-Establishments, das sich zu jener Zeit vor allem aus Absolventen der Eliteuniversitäten Oxford und Cambridge zusammensetzte.

Diese Leute, oft Adelige und stets reich, schlossen sich im »Achilles Club« zusammen, der bis heute die sportlichen Aktivitäten der beiden Universitäten managt, und verschrieben sich einem strikten Amateur­ethos. Sport, so die Auffassung der wohlhabenden Männer, solle dazu dienen, den Nachwuchs der gesellschaftlichen Elite zu guten und zähen britischen Gentlemen zu formen.

Mit Sport Geld zu verdienen, war verpönt, denn ein echter Gentleman hatte das nicht nötig. Es war eine Sache der Mittelschicht oder gar des verachteten Proletariats, athletisches Talent in bare Münze zu verwandeln. Eine ähnliche, allerdings anders motivierte Abneigung gegen den Profisport sollten später auch die deutschen Nazis an den Tag legen.

Vollzeittrainer in London

Sam Mussabini ließ sich davon nicht irritieren und der Erfolg gab ihm recht. Mehrere Goldmedaillengewinner bei den Olympischen Spielen in Stockholm im Jahr 1912 nahmen seine Dienste in Anspruch. Der Londoner Leichtathletikclub Polytechnic Harriers stellte Mussabini als Vollzeittrainer ein, eine Stelle, die der Coaching-Pionier bis zu seinem Tod im Jahr 1927 innehatte. Noch 1928, ein Jahr nach seinem Tod, gewannen einige der von ihm trainierten Athleten Medaillen bei den Sommerspielen in Amsterdam.

Mussabinis damals unkonventionelle, aber erfolgreiche Methoden fielen auch einem aufstrebenden englischen Läufer und Weitspringer auf, dem Juden Harold Abrahams. Der war zwar ein recht guter Athlet, aber er wusste, dass er zu mehr in der Lage wäre, wenn er nur richtig gecoacht würde.

Was folgte, wurde im Spielfilm »Chariots of Fire« (»Die Stunde des Siegers«) im Jahr 1981 dargestellt. Der Film, der sich natürlich einige künstlerische Freiheiten herausnimmt, beginnt mit dem berühmten und danach unzählige Male ­parodierten Zeitlupenintro zur Musik von Vangelis. Er erzählt, wie ­Abrahams gegen antisemitische Vorurteile ankämpfen muss und den ebenfalls vom Establishment nicht sehr geliebten Mussabini als Pri­vattrainer engagiert – und kulminiert mit Abrahams’ Goldmedaille im 100-Meter-Lauf bei den Olympischen Spielen 1924 in Paris.

Weit über die Sandbahn hin­aus

Zu Mussabinis für die damalige Zeit hochmoderner Herangehensweise gehörte es zum Beispiel, Filmaufnahmen von Läufen zu nutzen, um seinen Athleten Fehler aufzuzeigen oder Verbesserungen vorzuschlagen. Auch erkannte er als einer der Ersten, wie wichtig die richtige Ernährung und die psychologische Verfassung für Spitzenathleten sind. Wenn er jemanden coachte, dann ging das weit über die Sandbahn hin­aus und bis ins Persönlichste seiner Schützlinge hinein.

Sam Mussabini spielte auch eine Rolle in der Entwicklung des Frauensports, und zwar eine zwiespältige. 1923 gehörte er einer Kommission an, die die Frage beantworten sollte, ob Frauen zu den Disziplinen Stabhochsprung und Dreisprung zugelassen werden sollten. Die einstimmige Entscheidung der Herren Doktoren und Trainer: Nein, sollten sie nicht. Diese Sportarten seien »völlig unpassend für Frauen«, hieß es in der Erklärung.

Ab 1925 trainierte er auch weibliche Athleten, und zwar mit denselben ­professionellen Methoden wie deren männliche Kollegen.

Allerdings scheint Mussabini seine diesbezügliche Meinung bald geändert zu haben, denn ab 1925 trainierte er auch weibliche Athleten, und zwar mit denselben ­professionellen Methoden wie deren männliche Kollegen. 1927 verstarb Sam Mussabini an den Folgen seines Diabetes, unter dem er seit einigen Jahren gelitten hatte.

Mussabini wurde nicht vergessen. Neben dem oscarprämierten »Chariots of Fire« erinnern heute in London zwei blaue Plaketten der Heritage Foundation, eine an seinem einstigen Wohnsitz und eine am Herne-Hill-Stadion, an den Trainer, und an besonders verdienstvolle Trainerinnen und Trainer wird in England seit 1998 die Mussabini-Medaille verliehen. Im Jahr 2002 wurde der Erfolgscoach in die britische Ruhmeshalle der Leichtathletik aufgenommen.