Mythen des Ego-Imperialismus

Don't kick out the jams, brothers and sisters: Popmoderne Ökonomie zwischen Neoliberalismus und repressiver Entsublimierung

"Um Energieströme geht es (...) hier, aber um behinderte, gestaute, die sich ihr Bett ohne Rücksicht auf Zerstörung suchen." Mit diesem Zitat von Klaus Theweleit versuchte Jürgen Elsässer in einer konkret-Rezension des Theweleit-Buches "Ghosts" das im statistischen Vergleich überdurchschnittlich unerfüllte Sexualleben von Ost-Jugendlichen mit deren stärkerer Affinität zum Rechtsradikalismus zu begreifen.

Einmal mehr beschwört er damit den Mythos von der segensbringenden Kraft einer befreiten Sexualität, wie er seit den fünfziger Jahren in Umlauf ist: Von Elvis' skandalträchtigem Hüftschwung über das "Kick out the Jams" der MC 5 und das "Break on through (to the other Side)" der Doors bis zu Blumfelds schulchor-unterstützter Refrain-Parole "Mein System kennt keine Grenzen" arbeitet sich die Gegenkultur daran ab, feste Aggregatzustände aufzulösen, um das Reich der Freiheit zu erschließen.

Was seither in Fluß geraten ist, scheint aber eher zu demonstrieren, daß die 68er-Deterritorialisierungen ganz in den Deregulierungsexzessen des Neoliberalismus aufgegangen sind:1973 kippte das Bretton-Woods-System fixierter Wechselkurse, so daß die Geldströme sich über die ganze Welt ergießen konnten, 1989 wurde die Mauer unterspült, Daten flottieren via Internet frei um den Globus, und der "regelwütige, verkrustete" Staat stirbt auch immer mehr ab.

Es war ein langer Weg bis dahin, denn angetreten war die Marktwirtschaft einst mit einem asketischen Disziplinierungsprogramm für Individual- und Sozialkörper. Sparen, Triebaufschub und eine masochistische Arbeitsmoral bildeten die Grundfeste der protestantischen Ethik. Der konservative, kulturpessimistische Soziologe Daniel Bell beschreibt sie in seinem 1976 erschienenen Buch "Die Zukunft der westlichen Welt" als Überbau einer frühkapitalistischen Gesellschaft, die noch weitgehend von überschaubaren dörflichen Strukturen, Kleinhandwerk und dem Kampf ums täglich Brot geprägt war.

Diese Ordnung geriet zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Wanken. Die Großstadt-Population nahm rasant zu, das Fließband ersetzte die Manufaktur-Betriebe und ließ mit der Massenproduktion die Überflußgesellschaft entstehen. Dinge, die man nicht brauchte, konnten mit Geld, das man nicht hatte, gekauft werden - Marketing und ein Ratenzahlungssystem, das den konsumhemmenden Schulden/Schuld-Nexus aushebelte, machten es möglich.

Ersten kulturellen Ausdruck fanden diese Umwandlungsprozesse nach Bell bereits 1915 in dem Buch "America's Coming-of-Age". Die Autoren, eine Gruppe von Harvard-Professoren um Walter Lippmann und Van Wyck Brooks, geißelten den Puritanismus darin als "vertrockneten alten Yankee" und priesen die Wonnen einer befreiten Sexualität. Damit legten sie den geistigen Grundstein zu dem, was kurze Zeit später "neuer Kapitalismus" genannt wurde. Er setzte sich in dem letzten großen Kulturkampf Amerikas, der Auseinandersetzung um das Alkoholverbot, gegen die fundamentalistische Temperance (Mäßigungs)-Bewegung durch und gelangte im letzten Viertel des Jahrhunderts zur Blüte.

Der Puritanismus hat nach der verlorenen Schlacht gegen den Hedonismus nur noch Rückzugsgefechte geführt. Sie dauern zwar, wie die Forderungen nach einer "Gewalt-Prohibition" (spex) im Zusammenhang mit den Schüssen von Littleton zeigen, bis in die Gegenwart fort und erringen sogar kleine Erfolge, wie die Erlaubnis, in den Schulen als Deeskalationsstrategie die Zehn Gebote aufzuhängen, sind aber zum Scheitern verurteilt, weil den Sittenwächtern die soziale Basis abhanden gekommen ist.

Diese Entwicklung führt nach Daniel Bells Meinung zum Untergang des kapitalistischen Abendlandes, wenn es Verweichlichung, Zügellosigkeit und Egoismus nicht durch eine Rückkehr zum Glauben Einhalt gebietet. Herbert Marcuse, der freudo-marxistische Philosoph der Studentenbewegung, teilt die Analyse des amerikanischen Soziologen, will die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus aber zur anderen Seite hin - zur Sonne, zur Freiheit - auflösen.

War es nach Freuds Zivilisationstheorie notwendig, daß die Gemeinschaft ihren Mitgliedern zwecks Erarbeitung der Lebensgrundlagen einen Triebverzicht abverlangte, so kann die Überflußgesellschaft - auch im Gegensatz zum Mangel-Sozialismus - das Lustprinzip über das Realitätsprinzip triumphieren lassen und eine Kultur entwickeln, die ohne Sublimierung auskommt. Die historischen Subjekte dieses Umwandlungsprozesses erblickte Marcuse in den rebellierenden Jugendlichen der späten sechziger Jahre. "Phantasie an die Macht", "Miniröcke gegen Apparatschiks", die "neue Sensiblität", die niedere, "entsublimierte" Kunstform der Popmusik - das galt dem Philosophen als Ausdruck einer lustvollen Revolte für einen lustvollen, "leichtfüßigen und spielerischen" Sozialismus.

Marcuses Trieblehre sprach den sexuellen Energien Vernunft, Moral und kulturstiftendes Potential zu. Den Hedonismus, geistiges Kind der Sklavenhaltergesellschaft, erdacht von Philosophen in paradiesischen Sperrgebieten, baute er in seinen Schriften zum Universalprinzip aus. "Erotisierung des Gesamtorganismus" hieß sein Programm, in welchem dem Glück nicht mehr die armseligen Schauplätze vorbehalten blieben, die ihm der Spätkapitalismus einzuräumen bereit war.

Aber Marcuse hatte auch ein Gespür für die Ambivalenz von Befreiungsprozessen. Er sah die Möglichkeit repressiver Entsublimierungen, "asozialer" Selbstverwirklichungstrips und falscher Unmittelbarkeiten voraus. In "Repressive Toleranz" analysierte er die integrierende Wirkung scheinliberaler Politik. Und in "Versuch über die Befreiung" war ihm die Lockerung der Sitten kein bloßer Vorschein des Glückes auf Erden. Abgekoppelt von gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozessen, wirkt sie sogar systemstabilisierend, da sie die gnädig befreiten Körper libidinös an die institutionellen Väter bindet und die "repressive und aggressive Gewalt der Überflußgesellschaft mit einer triebmäßigen Basis versieht".

Damit ist der heutige Spaß-Kapitalismus ziemlich genau umrissen. Als sein idealtypischer Protagonist firmiert der ungebundene, jugendlich-dynamische, konsumfreudige Individualist. Je megalomanischer sich sein Ego zur Wolkendecke hin erstreckt, desto nebulöser erscheint ihm der Rest der Welt. Jenseits der Haustür beginnt ein Niemandsland. Politik wird vom Egotripper bloß als verschwommene Kulisse, als Hintergrundgeräusch wahrgenommen. Das einzig Konkrete stellt der eigene Körper dar, die einzige Grenze der Tod, der durch den Kult der ewigen Jugendlichkeit gebannt werden soll.

"Noch niemals zuvor (Ö) haben Menschen für ihren Körper ein solch immenses Maß an pflegender Zuwendung und hegender Zärtlichkeit sei's von anderen eingefordert, sei's selber aufgebracht, haben sich so engagiert um den eigenen Körper gekümmert, ihm soviel lustvoll Gutes getan, ihn so regelmäßig gecremt, geölt, parfümiert, geputzt, frisiert, manikürt, bemalt (...)." So zitiert Klaus Theweleit in "Ghosts" Ausführungen von Klaus Enderwitz zum eigenen Körper als primärem Lustobjekt der Gegenwart.

Schon Herbert Marcuses Befreiungsphilosophie mußte den Narziß rehabilitieren. Indem er sich durch seine polymorph-perverse Sexualität der Fortpflanzungsökonomie verweigert und auch auf anderen Gebieten dem l'art pour l'art frönt, gilt der Selbstverliebte dem Philosophen als Umstürzler des Realitätsprinzips. Vom Verdikt des Solipsismus spricht Marcuse den Narziß ebenfalls frei: Seine Selbstumarmung schließt die ganze Welt mit ein. Was Marcuse als "ozeanisches Gefühl" beschreibt, könnte man allerdings ebensogut als Ego-Imperialismus bezeichnen.

Theweleit und Marcuse sehen im Narzißmus vorwiegend das Potential, sich von einer rein aufs Genitale fixierten Sexualität zu emanzipieren. Richard Sennett, Autor des Buches "Die Tyrannei der Intimität", erblickt im Narzißmus hingegen das Grundübel der Epoche, das verantwortlich ist für die Atomisierung des Sozialen und auch seinen Protagonisten nicht gut bekommt. War die Neurose die psychische Krankheit des autoritären Kapitalismus, so sind die narzißtischen Charakterstörungen das Signum des antiautoritären Kapitalismus. Sennett beschreibt den Narziß als einen Menschen, der seinem Glück buchstäblich selbst im Weg steht.

Der Unermeßlichkeit seiner Wünsche ("I can get no satisfaction") kann nichts und niemand gerecht werden. Pausenlos jagt der Narziß Attraktionen hinterher und begegnet doch nur immer sich selbst. Permanent horcht er in sich hinein und vermeint, zu wenig zu fühlen - wofür er den Höllen-Anderen die Schuld gibt, die seiner Meinung nach zu schwache Reize aussenden.

Man kann es sich leicht machen und den libidinös aufgeheizten, narzißtische Energien freisetzenden Spaß-Kapitalismus als Resultat einer falschen oder steckengebliebenen Befreiung ansehen. Es spricht jedoch mehr dafür, sich auch von der Sache selber, den Befreiungsmythen der fünfziger und sechziger Jahre zu verabschieden.

Die Popkultur-Avantgarde reagiert auf den zweifelhaften Sieg über die Charakterpanzerungen, Verkrustungen und andere Stau-Bildungen der formierten Gesellschaft mit einem anti-zyklischen Gegensteuern. Diedrich Diederichsen ging in seinem Aufsatz vom Ende der Jugendkultur auf Distanz zum gegenkulturellen Topos des Tabubruchs. Später versuchte er, die rigiden Minderheiten-Politiken der "Political Correctness" in das Pop-Universum zu integrieren. Den vorerst letzten Versuch, im Reich der unbeschränkten Möglichkeiten ein anti-individuelles, normatives, reduziertes Programm zu etablieren, stellt Lars von Triers Dogma 95-Ästhetik dar, nicht ganz ernst, aber doch so ernst wie möglich gemeint.

Der Pop in Großbuchstaben zeigt sich davon relativ unbeeindruckt. Er macht einfach weiter, obwohl er längst angekommen ist. Wenn auch immer mal wieder etwas mehr als Unterhaltung dabei herausspringt.