Krise bei der China AG

Beim Nationalen Volkskongreß übte sich Ministerpräsident Zhu Rhongji in Kritik und Selbstkritik

"In China existieren viele Widersprüche und latente Gefahren." Das sagte Chinas Ministerpräsident Zhu Rongji bei seiner Abschlußrede vor dem Nationalen Volkskongreß, der letzte Woche in Peking zu Ende ging. Zweifellos hat er damit recht.

Normalerweise bringt die jährlich tagende Versammlung kaum Überraschungen, da sie lediglich dazu dient, die Beschlüsse der Regierung zu bestätigen. Dieses Mal jedoch war es anders: Mit einer bislang unbekannten Offenheit sorgte Zhu für Erstaunen, als er eine erste Bilanz nach einem Jahr Amtszeit vorlegte: "Die weitreichende Wirkung der asiatischen Finanzkrise war für China viel schlimmer als erwartet." China leide an Überkapazitäten durch Doppel- und Dreifachinvestitionen, an aufgelaufenen Finanzrisiken und einer chaotischen Wirtschaftsordnung, klagte Zhu, der sich den Titel eines "Wirtschaftszaren der China AG" zugezogen hat. Und immer wieder kam er auf die Korruption zu sprechen, die "in manchen Gebieten untragbar" geworden sei.

Mit eisigen Mienen applaudierten Amtsvorgänger Li Peng und der allmächtige Parteichef Jiang Zemin zu dieser Selbstkritik und der Kritik an der Kommunistischen Partei. Gewagt, gewagt, sagten sich einige Beobachter, denn wer sich so weit aus dem Fenster lehnt, hat bisher in der Regel politisch nicht lange überlebt. "Wenn es jetzt zu ernsthaften Unruhen in der Bevölkerung kommt, wird Jiang Zemin alle Schuld auf Zhu abladen", befürchten Chinaexperten. Und die soziale Lage in China ist in der Tat alles andere als rosig.

Aber um die ging es auf dem Volkskongreß nicht. Wichtigstes Ergebnis war vielmehr eine Verfassungsänderung: Die Privatwirtschaft wird künftig nach der Verfassung nicht mehr nur eine "ergänzende", sondern eine "wichtige" Rolle spielen - Ausdruck der wachsenden Bedeutung, die die Bürokratie dieser Form der Produktion zumißt.

Seit 1978 war ein Wirtschaftswachstum von etwa neun Prozent jährlich im "chinesischen Modell der sozialistischen Marktwirtschaft" zu verzeichnen. Als Motor der Entwicklung fungieren die seit 1979 eingerichteten Sonderwirtschaftszonen an der Küste, in denen hauptsächlich für den Export produziert wird. Im Gegensatz zur autarken Wirtschaftspolitik unter Mao Zedong zentrierte sich seit Mitte der achtziger Jahre die wirtschaftliche Entwicklung um den Export. In den vergangenen Jahren waren etwa 40 Prozent der chinesischen Exporte für den asiatischen Markt bestimmt.

Seit dem asiatischen Crash im vergangenen Jahr scheint dieses Modell an seine Grenzen gestoßen zu sein. Mit dem Bankrott der zweitgrößten chinesischen Investmentgesellschaft Guangdong International Trust and Investment Corporation (Gitic) Anfang dieses Jahres ließ zudem die unter ausländischen Investoren grassierende China-Euphorie nach. Sollte sich das Wachstumstempo verlangsamen, wird es für die Bürokratie schwieriger, die sozialen Folgen ihrer Modernisierungspolitik aufzufangen.

Die sind schon heute immens. Schätzungsweise 160 Millionen Menschen suchen in China Arbeit - 130 Millionen Menschen allein auf dem Land, so die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua.

Insbesondere die Staatsindustrie birgt soziale Konflikte. Aufgebaut in den sechziger Jahren unter Mao Zedong, umfaßt die Staatsindustrie heute etwa 120 000 Unternehmen mit insgesamt 100 Millionen ArbeiterInnen. Dem linksradikalen China-Kenner Charles Reeve zufolge machen 70 Prozent dieses Sektors Verluste, die jedes Jahr um rund zehn Prozent steigen. Seit einiger Zeit versucht die chinesische Regierung die Subventionierung der Staatsbetriebe zu senken. Der Sektor, der 1980 noch 80 Prozent der industriellen Aktivitäten ausmachte, wurde bis 1997 auf 30 Prozent gesenkt.

Die chinesische Bürokratie hat geglaubt, in den großen Staatsbetrieben Rentabilitätskriterien nach westlichem Vorbild einführen zu können und den Lohn an die Produktivität zu koppeln. Die unabhängig gewordenen Staatsunternehmen sollten sich der Marktkonkurrenz stellen. Die Folgen waren drastisch: Seit Beginn der Wirtschaftsreformen sind über zehn Millionen Menschen aus den Staatsbetrieben entlassen worden, bis zum Jahr 2000 werden schätzungsweise weitere zehn Millionen ihren Arbeitsplatz verlieren.

In den Sonderwirtschaftszonen und den prosperierenden Küstenregionen, denen die Sonderwirtschaftszonen als Vorbild dienen, hat sich purer Manchester-Kapitalismus breit gemacht. Arbeit in den Wirtschaftszonen bedeutet: keinerlei Schutz der Beschäftigten, freies Wirtschaften für Kapital aus dem Westen - kombiniert mit der autoritären Politik, die weder parteiunabhängige Gewerkschaften noch Proteste zuläßt.

Hinzu kommt das Problem der Migration. Auf der Suche nach Arbeitsplätzen, die in der Landwirtschaft rapide abgebaut werden, zieht ein großer Teil der Menschen vom Land in die Städte. In China, wo immer noch 85 Prozent der Bevölkerung auf dem Lande lebt, bedeutet dies eine massive Wanderungsbewegung. Mingong werden sie genannt, Arbeiterbauern, deren Zahl heute auf 150 Millionen Menschen geschätzt wird. Seit Februar sind innerhalb von 25 Tagen allein aus der Provinz Hunan 680 000 Menschen nach Kanton gezogen. Ganze Millionenstädte aus Zelten und Baracken säumen die Vororte von Kanton und Shanghai.

Was die Stimmung der ArbeiterInnen auf Chinas Äckern und Feldern besonders aufheizt, ist die Korruption der lokalen Parteikader. 1998 deckten Inspektoren der Partei 124 000 Korruptionsfälle auf. Lokale Kader der kommunistischen Partei bessern ihre Einnahmen durch willkürliche Steuern und Abgaben auf - zu Lasten der Bauern. Immer mehr Bauern weigern sich, überhaupt noch irgendwelche Steuern zu bezahlen.

Immer öfter machen sie ihrem Ärger Luft, und immer öfter wird der Protest militant. In der Kreisstadt Daoling in der Provinz Hunan gingen Anfang Januar 10 000 Bauern auf die Straße. Doppelt so hoch wie gesetzlich erlaubt seien die Steuern gewesen, erzählen die erbosten Bauern in Daolin. Die Situation eskalierte, als die Polizei gewaltsam die Demonstration auflösen wollte: Tagelang lieferten sich die Aufständischen Straßenschlachten mit der Polizei.

Nach Angaben der Sicherheitsbehörden hat es 1998 mehr als 10 000 Bauernproteste gegeben. Sie reichten von Petitionen zu Versuchen, Büros der Regierung zu blockieren. Doch dabei bleibt es nicht. In diesem Jahr kam es zu Bombenanschlägen in den Städten Changsha, Zhuhai und Liaoning. Einer Untersuchung der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften zufolge gab es 1998 in China mehr als 2 500 Explosionen - durchschnittlich sieben Anschläge am Tag. Die Dunkelziffer liegt weit höher.

Auf die Revolten reagiert die Zentralregierung je nach Situation mit Zuckerbrot oder Peitsche: Entweder werden die Banken beauftragt, die notwendigen Summen zur Bezahlung von ausstehenden Löhnen oder Renten freizugeben, oder sie schickt die bewaffnete Polizei und verhängt drastische Strafen.

Noch ist der Protest auf einzelne Gebiete begrenzt. Doch der Unmut geht - anders als der Protest von 1989 - nicht von einer intellektuellen Minderheit aus, sondern von Millionen von Bauern und ArbeiterInnen. Der Protest richtet sich derzeit vorrangig gegen die wachsende örtliche Korruption der lokalen Kader, eine Begleiterscheinung der ökonomischen Modernisierung. Noch gibt es kaum direkte Verbindungen zwischen ländlichen Revolten und Streiks in den reichen Küstenstädten und Sonderwirtschaftszonen. Doch eine solche Verknüpfung könnte zur Folge haben, daß "China von einer so gewaltigen Protestwelle überschwemmt werden würde, die selbst das chinesische Militär nicht unter Kontrolle hätte", sagt Han Dongfang, der während der Proteste 1989 die "Autonome Arbeitergewerkschaft" gegründet hat und heute in Hongkong im Exil lebt.

Der bisherigen Linie der Pekinger Führung, nach der "alle Unruhefaktoren im Keim erstickt" werden müssen, entgegnete Zhu auf dem Volkskongreß: "Wir dürfen nicht mit diktatorischen Mitteln gegen die Volksmassen vorgehen." Es sei an der Zeit, die Ursachen der Probleme zu lösen. Das könnte schwierig sein.