Dichter, du darfst!

Walser in der neuen und alten Mitte.

In der Debatte um Martin Walsers Friedenspreisrede durfte wirklich jeder mitreden: Klaus von Dohnanyi und Rudolf Augstein, Kathi-Gesa Klafke und Campino. Mancher jedoch vermißte die Stellungnahme wenigstens eines Vertreters der neuen Bundesregierung. Als alles vorbei war, wurde ihm endlich geholfen.

Zwar beteuerte Gerhard Schröder, er wolle die denkwürdige Rede nicht kommentieren. Aber "eine bestimmte Form des Sicherinnerns war erstens aufgezwungen und zweitens ritualisiert. Das hängt auch miteinander zusammen. Ich finde, das sollte nicht sein. Leute, die keine eigene Erinnerung haben - das betrifft meine Generation und die Generationen, die danach kommen -, sollten ohne Schuldkomplexe herumlaufen können." Die widerstreitenden Positionen, wie sie einerseits von Walser und andererseits von Ignatz Bubis formuliert wurden, seien gleichermaßen "ernsthaft". Falsch und "ganz unfair" sei die Unterstellung, Walser habe der Verdrängung des Holocaust die Argumente liefern wollen. "Es ist ja nicht so. So jedenfalls habe ich ihn nicht kennengelernt. Man darf ihn nicht als Ideologen der Verdränger vereinnahmen. Es wäre zudem falsch zu bestreiten, daß es ein Problem gibt, auf das Walser hingewiesen hat. Es gab in seiner Rede überspitzte Formulierungen. Ein Dichter darf so etwas. Ich dürfte das nicht."

Obwohl also beide Positionen "ernsthaft" sind, ist doch Bubis unfair und im Unrecht, während Walser auf ein bestehendes Problem hinweist. Walser leidet unter der "Routine des Beschuldigens", Schröder möchte ohne Schuldkomplex herumlaufen. Und was das Holocaust-Mahnmal betrifft, so teilt der Kanzler wiederum die Meinung des Dichters - auch wenn er sie nicht so überspitzt formulieren darf: "Ich hatte gewisse Schwierigkeiten zu akzeptieren, daß der ursprüngliche Entwurf von Eisenman, das große und reine Stelenfeld als symbolisches Zeichen, an diesem Ort angemessen und richtig wäre. Davon geht eine Wucht aus, mit der sich viele Menschen nur schwer auseinandersetzen können." Deswegen und weil doch die zahlreichen Konzentrationslager die eigentlichen Stätten der Erinnerung seien, hätte Schröder "auch ohne ein Mahnmal in Berlin leben können". Nun aber sei es leider nicht mehr zu verhindern. Denn ein Nein zum Mahnmal wäre "die Einladung zu einem bewußten Mißverstehen".

Wer die Deutschen für ein ganz normales Volk hält, klagt Walser, gerate in bösen Verdacht. Solche Befangenheit hat Schröder längst überwunden; er nimmt es nicht übel, wenn man ihn Wilhelm den Dritten nennt: "Das wäre doch nicht schlecht." Dem Hinweis, die deutsche Geschichte enthalte eine Anomalie, entgegnet er: "Auch andere Nationalgeschichten enthalten Anomalien, aber die deutsche enthält eine besondere, eine einmalig furchtbare. Deshalb sage ich: Auch derjenige, der die Deutschen für ein normales Volk hält, der im Verkehr mit Kollegen anderer Länder sehr viel unbefangener mit ihnen umzugehen in der Lage, bereit und willens ist, kennt diese Einmaligkeit. Insoweit glaube ich, daß zwischen Normalität auf der einen Seite und andererseits der Bereitschaft, sich zu erinnern, kein Widerspruch besteht, jedenfalls keiner, der nicht auflösbar wäre."

Wie die Versöhnung von deutscher Normalität und deutscher Anomalie zu vollbringen ist, wissen inzwischen sogar die Albaner: "Bis hin zu denen, die im Kosovo geschützt werden müssen, besteht doch die Einsicht: Weil wir dort solche vielfältigen Verwüstungen angerichtet haben, sind wir besonders gefordert, Mord, ja vielleicht sogar Völkermord zu verhindern." Bisher hätten die Deutschen sich "vor einem Eingehen auf die Wirklichkeit, wie es andere Völker von uns erwartet haben, gedrückt. Normalität kann auch belastend sein." Damit es die Last froher trage, will der Kanzler "dem Volk was für die Seele geben": das Berliner Stadtschloß.

Wäre seine Scheinheiligkeit nicht allzu offenbar, verdiente Schröder einen Friedenspreis als erster Staatsmann in der Geschichte, der sein Recht, nötigenfalls den Krieg zu erklären, als eine Bürde empfindet, die ihm von fremden Mächten aufgeladen wird. An das perverse Argument, gerade weil der Völkermord deutsche Tradition sei, müßten die Deutschen demnächst wieder Kriege führen, dachte Walser gewiß nicht, als er von der "Instrumentalisierung unserer Schande" sprach. Vielmehr denken beide, Schröder und Walser, wenn sie von Normalität sprechen, an "die selbstbewußte Nation".

So hieß die erste Programmschrift der neuen Rechten, und Schröder formulierte in seiner ersten Regierungserklärung "das Selbstbewußtsein einer erwachsenen Nation". Seitdem haben sich die Bürger ehemals von der Wehrmacht besetzter Länder daran zu gewöhnen, daß der deutsche Kanzler sich nicht bei jedem Staatsbesuch mit irgendwelchen Gedenkritualen aufhält. Schon an der Gedenkfeier zum achtzigsten Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs konnte Schröder aus Termingründen nicht teilnehmen; sein Vorgänger hätte sich die Gelegenheit zu einer weiteren Versöhnungsgeste kaum entgehen lassen.

Der Gnade einer noch späteren Geburt möchten die ehemaligen 68er, haben sie doch die Auseinandersetzung mit der Tätergeneration schonungslos geführt und dabei die Gesellschaft gründlich zivilisiert, voll und ganz teilhaftig werden. Daß die Forderung der neuen Rechten nach einer konsequenten Interessenpolitik und dem endgültigen Ende des "Sonderwegs" ausgerechnet von einem sozialdemokratischen Kanzler erfüllt werden, nennt die Junge Freiheit eine "Ironie" und freut sich zu beobachten, "wie die Fronten bröckeln, die Tabus fallen und Normalität Einzug hält". Des geschichtspolitischen Projekts der Rechten, nämlich Deutschland vom Nationalsozialismus zu entlasten, hat Walser sich angenommen, und die ganz breite neue und alte Mitte scheint ihm zu folgen.

Deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, daß Antisemitismus sich während der Walser-Debatte so unverhohlen aussprechen konnte. Die dümmsten und infamsten Äußerungen stammten von Sozialdemokraten. Günter Grass, obwohl von der Friedenspreisrede offenbar gemeint als einer derjenigen, die "unsere Schande" zu undeutschen Zwecken instrumentalisieren, gab Walser recht: Jawohl, seit Jahrzehnten schon arbeite er, Grass, "aus linker Sicht" an einem gesunden Nationalbewußtsein, weil man das nationale Thema nicht abermals der Rechten überlassen dürfe.

Zweitens verweigerte er dem geplanten Holocaust-Mahnmal seinen Segen, solange nicht "die von mir kritisierte Selektierung aufgegeben wird". Die Gedenkstätte müsse nicht nur den Juden, sondern allen Opfergruppen gewidmet sein, die von den Nazis systematisch verfolgt und ermordet wurden. "Ich warne davor, mit bester Absicht jene Selektierung fortzusetzen, die die Nazis betrieben haben." (Für alle, die nicht mit der Gruppe 47 aufgewachsen sind: Wenn Grass von "Selektierung" spricht, meint er Selektion.)

Er will damit sagen: Massenmord ist dasselbe wie Denkmalsbau, die Vernichtung "unwerten Lebens" dasselbe wie die Erinnerung daran, Himmler nicht schlimmer als Kohl. Was er damit auch noch sagt: Die Juden sind wieder einmal privilegiert, selbst als Opfer sind sie fein raus, selbst das eigene Unglück verwerten sie zu ideellem Profit. Warum das so ist und daß es schon immer so war, kann man in der einschlägigen antisemitischen Literatur nachlesen.

Einen Antisemiten erkennt man bekanntlich daran, daß er seine Meinungen gern mit der Formel einleitet, er sei kein Antisemit, aber ... Wenn man Egon Bahr fragte, ob er ein Antisemit sei, so würde er vermutlich antworten: Nein, bewahre, aber es ist doch wohl eine "Selbstverständlichkeit, daß auch Juden irren können und Israel Fehler machen kann, und es irgendwann möglich sein muß, daß Deutsche oder die Bundesregierung das sagen dürfen, ohne daß diese Mündigkeit mit dem Wink auf deutsche Vergangenheit bezweifelt wird". Wer in seinem Büro ein Porträt des ältesten Moltke aufhängt, weil dieser Feldherr den letzten siegreichen Krieg für Deutschland führte, der muß irgendwann einfach mal sagen, daß auch Juden irren können.

Ignatz Bubis, schrieb Bahr in der Zeitschrift Internationale Politik, habe nach Walsers Rede "zunächst aufgeregt und dann am 9. November überlegt reagiert". Walser durfte an diesem Tag "kaum eine Reaktion völliger Ignoranz erwarten, eher eine Entschuldigung für einen schweren Lapsus", für den Vorwurf geistiger Brandstiftung nämlich. "Was Walser gesagt hat, ist unbestreitbar. Daß Walser bei der unaufhörlichen Präsentation unserer Schande angefangen hat wegzuschauen, ist verständlich. Es geht mir nicht anders."

Aus Müdigkeit entsteht Mündigkeit, was aber machen wir mit unserer Geschichte? "Sofern sie den Generationen vorgehalten wird, die nach 1939 geboren wurden, sind bisher versäumte Leistungen an die Opfer nachzuholen, aber angemahntes deutsches Wohlverhalten, eingefordert wegen und abgeleitet von der unrevidierbaren Hitlerei, ist schon deshalb abzulehnen, weil letztlich die Instrumentalisierung Hitlers gegen Deutschland unerträglich wäre." Schwer zu entscheiden, ob er wirklich meint, was er sagt, oder ob er nur nicht sagen kann, was er meint. Die Opfer sind zu entschädigen, sofern uns die Geschichte vorgehalten wird. So etwas nennt man wohl: die Moralkeule mit dem Florett parieren. Selbstredend weist auch Bahr den Vorwurf einer deutschen Kollektivschuld, den niemand erhoben hat, mit aller Entschiedenheit zurück.

Wenn nur die deutsche Einheit wiederhergestellt werde, behauptete Walser in den achtziger Jahren, erledige sich das nationale Thema ganz von selbst. Bahr teilt diese Meinung, obwohl sie sich längst als böser Irrtum erwies, noch immer. Dabei weiß er doch am besten, was deutsche Selbstbestimmung fordert: mehr deutsche Selbstbestimmung. "Es ist im allgemeinen öffentlichen Bewußtsein noch nicht angekommen, daß die gewonnene Selbstbestimmung nun auch Selbstbestimmung gestattet und fordert." Deutsche Normalität herzustellen, sei inzwischen auch eine außenpolitische Aufgabe. Deutschland dürfe, meint Bahr, einen amerikanischen Journalisten zitierend, nicht länger der "treueste Vasall" der USA bleiben, es werde "erst dann interessant werden, wenn es in einem wichtigen Punkt eine andere Auffassung als Amerika vertritt".

Den Dritten im Bunde sozialdemokratischer Antisemiten gab Klaus von Dohnanyi. In einem offenen Brief an Ignatz Bubis wies er diesen zunächst darauf hin, er könne Walsers Rede nicht verstehen und habe sich unqualifizierter Bemerkungen folglich zu enthalten. "Denn Walsers Rede war die Klage eines Deutschen - allerdings eines nichtjüdischen Deutschen - über den allzu häufigen Versuch anderer, aus unserem Gewissen eigene Vorteile zu schlagen. Es zu mißbrauchen, ja zu manipulieren. Wer in unseren Tagen zu diesem Land in seiner Tragik und mit seiner ganzen Geschichte wirklich gehören will, wer sein Deutschsein wirklich ernst und aufrichtig versteht, der muß sagen können: Wir haben den Rassismus zum Völkermord gemacht; wir haben den Holocaust begangen ..." Und da müßte Bubis ja nun wirklich lügen. Nachdem er die Kollektivschuld als identitätsstiftende Kraft erkannt und die Juden aus der Volksgemeinschaft verstoßen hat, beschreibt Dohnanyi seine Gewissensnot. Als Sohn eines von den Nazis ermordeten Widerständlers hätte er sich leicht auf die Seite der Opfer schlagen können, und tatsächlich sei er "für die anderen Völker so ganz doch kein Deutscher", nämlich "eine gute Ausnahme der Deutschen". Das war eine beständige "Versuchung", denn "die Abkunft von ermordeten Widerstandskämpfern gibt ebenso wie die Abkunft von jüdischen Opfern eine Chance für einen persönlich völlig unverdienten Freispruch von der schändlichen, gemeinsamen Geschichte der Deutschen im Dritten Reich".

Wenn er seine deutsche Nationalität so sehr liebt, daß er um ihretwillen gern ein wenig schuldig sein möchte, so ist das zunächst Dohnanyis Privatsache. Trotzdem müßte er erklären, was man unter einem "unverdienten Freispruch" zu verstehen hat; in der juristischen Literatur kommt so etwas nicht vor. Und daß ausgerechnet die überlebenden Juden von der deutschen Geschichte "freigesprochen" wurden, kann man schwerlich behaupten.

Was also bedeutet dieser rätselhafte Satz? Wenn die Juden "unverdient" freigesprochen wurden, müssen sie schuldig sein. Unnötig also, daß sich "auch die jüdischen Bürger in Deutschland fragen, ob sie sich so sehr viel tapferer als die meisten anderen Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 'nur' die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären". Natürlich nicht. Wenn man sie nur gelassen hätte, wären auch die Juden schuldig geworden, nur der doofe Hitler und sein Holocaust verhindern den Beweis. Mit dem Freispruch in der Tasche instrumentalisieren die Juden nun die deutsche Schande, während die Deutschen sich ein Gewissen machen.

Ignatz Bubis sprach vom "latenten Antisemitismus" Walsers und Dohnanyis. Und da, fand Dohnanyi, hätte Deutschland erwachen müssen. "Ich finde, viele Deutsche hätten sich da erheben müssen. Wenn ein Vorwurf gegen einen Mann wie Walser fällt, dann muß man laut sagen: So geht's nicht." Bzw.: Deutsche, wehrt euch!

Von Joachim Rohloff erscheint Ende März im Konkret Literatur Verlag: "Ich bin das Volk. Martin Walser, Auschwitz und die Berliner Republik"